Der klassenlose Teig

BEST OF MENSCHHEIT: Folge 11: Nudeln

  • Tim Wolff
  • Lesedauer: 3 Min.

Wenn man eine Kolumne mit der - ja, was eigentlich? ironischen? sarkastischen? fatalistischen? deprimierenden? - Prämisse bespielt, die menschliche Zivilisation sei bereits am Ende und es sei Zeit, nur noch feierlich zurückzublicken, dann kommt einem so eine Pandemie nicht so richtig gelegen, selbst wenn sie einem recht zu geben scheint - weil man sich doch in Wirklichkeit müht, nicht über all dem zynisch zu werden.

Doch nach der theoretischen Einübung mit all den Endzeitfilmen und -serien, über die ferne Historiker nur werden sagen können, dass sie das implizite Wissen aller, was kommen wird, in sich trugen, gibt nun ein Virus eine erste praktische Übung fürs Menschenfinale. Und das Virus tut sich dabei erschreckend leicht, alle Widersprüche, Lächerlichkeiten und Ekelhaftigkeiten des Herrschenden freizulegen: die Fragilität des besten aller Systeme, die globalisierte, gegen Natur und Mensch schonungslose Produktion, die an Arbeitskraftverwertung und Konsum selbst für mittelfristigen Selbstschutz zu schwachsinnig gewordenen Individuen, die neoliberale Verachtung der Schwachen und Alten, die einfach zur beiläufigen Entlastung der marode gemachten Sozialsysteme wegsterben zu lassen etwa ein Boris Johnson gewiss weiterhin ernsthaft erwägt.

Best of Menschheit

Die Menschheit hat im Kapitalismus zu sich gefunden und mit dem, was euphemistisch »Klimawandel« genannt wird, zu ihrem Ende. Zeit also, kurz vor Schluss zurückzublicken auf ein paar tausend Jahre Zivilisation und all das, was trotz allem gar nicht so übel war. 

Gute Güte, der deutsche Wirtschaftsminister Altmaier schlug - zur Not! - die Verstaatlichung wichtiger Unternehmen vor, bevor mehrere Leute an Covid-19 gestorben waren oder die Krankenhäuser und ihr Personal halbwegs ausreichend auf die zu erwartende medizinische Extremsituation vorbereitet wurden, weil stets klar bleiben muss, an wen in der Verwaltung einer »sozialen Marktwirtschaft« (Eigenwerbung) zuerst gedacht wird. Dass der fürs Kapitalbefriedigen zuständige Minister nonchalant und aufschreilos mit einer Maßnahme ankommt, für die ein Sozibengel namens Kevin vor einem Weilchen noch den Stalin-Award zugesprochen bekam, zeigt, wie schnell da befürchtet wird, die üblichen Methoden zur Überführung von Steuergeld in die geliebten privaten Taschen könnten bald versagen (denn die Verstaatlichung würde ja nur so lange dauern, bis die sanierten Unternehmen wieder privat wirtschaften können). Kurz: Es ist eine Situation, die den inneren Vulgärmarxisten einen Veitstanz aufführen lässt.

Da ist es nicht leicht, noch an etwas zu denken, was die Menschheit in den Jahrtausenden ihrer Schreckensherrschaft Gutes, ja Bestes hervorgebracht hat. Doch muss man das vielleicht auch gerade nicht selbst entscheiden, entscheidet doch die Mehrheit ganz offensichtlich mit Händen und Füßen: Nudeln! Ohne Nudeln geht es nicht, ist kein Leben denkbar oder rettenswert. Es ist wahrlich kein Wunder, dass sie weggehamstert werden wie sonst nur Toilettenpapier und Desinfektionsmittel auf Kinderkrebsstationen. Nudeln sind nicht nur der genussgewordene Triumph des Weizens, sie sind klassenlos, verwöhnen Gaumen und Magen ohne Ansehen von Herkunft, Geschlecht, Sexualität und Alter. Nur den Glutenspinnern passen sie nicht - aber die haben sie auch nicht verdient.

Der Angriff des Virus ist nicht nur global, weil er überall zuschlägt, er ist es, weil er mit Italien das Land am härtesten trifft, das die schnöde Energiezufuhr, die der Mensch zum Dasein benötigt, zur höchsten und breitesten Kochkunst erhoben hat. Und in ihr sind es die Nudeln in ihren zahllosen Varianten, die - von schnöde bis delikat zubereitet - eine endlose Freude darstellen. Dem Menschen an die Nudel zu gehen, ist gleichbedeutend damit, ihm das Leben nehmen zu wollen.

Man verurteile also nicht die Regale leerende Gier aufs Hartweizengrießgestänge, sondern erkenne in den Panikkäufen, was sie eigentlich sind: eine Feier, ein Denkmal für das beste Lebensmittel, also Mittel des Lebens, das die Menschheit je hervorgebracht hat. Und sage: Guten Appetit! Er wird den Leuten schon noch früh genug vergehen.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.