Hoffnung auf den Tag inmitten der Nacht

Der Revolutionsfromme: Hölderlin zum 250. - Rüdiger Safranskis bewegende Dichterbiografie

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Unsere Zeiten sind hart. Es brodelt. Kann man sich da noch ruhigen Gewissens dem Schönen, der Feier des ästhetischen Augenblicks hingeben? Wenige Jahre nach der Französischen Revolution, die er emphatisch begrüßt hatte, nach dem Terror der Jakobiner und mitten in den Wirren der Napoleonischen Kriege richtete der 28-jährige Friedrich Hölderlin ein verzweifeltes Gebet an die Parzen, an seine Schicksalsgöttinnen. Neben sterbensnaher Verzweiflung plötzlich beseelte Erinnerung: »Doch ist mir einst das Heil'ge, das am/ Herzen mir liegt, das Gedicht, gelungen/ .../ Einmal/ Lebt ich, wie Götter, und mehr bedarfs nicht.«

Und mehr bedarf es nicht! Dichters Mission: Es kommt darauf an, dem Kunstwerk, wenn es denn gelingt, eine nahezu religiöse Aura zu verleihen, die es von allen anderen Angelegenheiten des Dasein entfernt. Das ist sie, die Radikalopposition. Darüber hat Rüdiger Safranski, einer der besten biographischen Erzähler des Landes, nun ein Buch geschrieben: »Hölderlin. Komm ins Offene, Freund!«

In fremden Lebensdschungeln, in überlieferten Abläufen einer Existenz eine innere Exotik aufspüren, die aus heutigen Fragestellungen ihre Reize bezieht - das ist seit Jahrzehnten das Metier von Safranski. Was bewirkt Spannung in einem Dasein? Wie dringt eine Idee in die jeweiligen Körper ein? Was vermag der Wille zu einem Werk gegen die Anfechtungen der menschlichen, also verwitternden Natur? Darin besteht die Kunst: Vergangenheit lebendigzuschreiben. Denn von dem, was längst aufhörte, bleibt etwas, das unaufhörlich weiter erdacht werden kann. Und Hoffnung ist nicht Hoffnung auf den Tag nach der Nacht, es ist Hoffnung auf den Tag inmitten der Nacht.

Tübingen und Stuttgart, Heidelberg und Frankfurt, Schwabenland und Schweizer Berge. Und Jena, ein Olymp des Geistes - der aber wie alle Welt, die dieser Hölderlin betritt, zum Ort von Fluch und Fluchten werden muss. Zwischen seiner Geburt am 20. März 1770 und seinem Tod am 7. Juni 1843 das erzählenswerte Wunder: im Druckbehälter der Existenz doch trotz allem (wegen allem!) eine Odyssee ins »Offene« zu vollziehen - einer göttlichen Eingebung folgend: »Alles prüfe der Mensch, sagen die Himmlischen, / Daß er, kräftig genährt, danken für Alles lern', / Und verstehe die Freiheit, / Aufzubrechen, wohin er will«.

Ein geradezu dramatisch geknäultes Panorama entfaltet sich: pubertäres Feuer und frühreife Gedankenwucht. Im sozial ächzenden Württemberg eine fordernde Bürgerlichkeit. Am Neckar jene Jugendzeit im Stift, die noch trockenste theologische Seminare in Kant-Rauschfeste verwandelt. Hölderlin in einem Zimmer mit Hegel. Schiller wird verehrt, Freiheitskämpfer Schubart ebenso. Schwelgen in Spinozas Naturphilosophie. Von Fichte lernen die Jungen die energische Selbstergreifung des Ich.

Hinweg mit der Pfarrstellen-Genügsamkeit; hinweg mit all dem Gemäßigten, dass den berauschenden Dionysos beleidigt. Die Hofmeisterei? Eine Demütigung. Selbst die Philosophie - ein Notbehelf. Die Kritiker ein Graus; sie lieben nur ihr eigenes Mittelmaß. So lernt ein Dichter die geradezu metallene Härte, einzig auf Poesie zu setzen. Gegen die häusliche Liebe. Gegen die Schraubzwinge der Bemutterung. Gegen alles, was der »Männervollkommenheit« Zügel anlegen will. Und in der heftigen Beziehung zur verheirateten Susette Gontard will höchstens gelernt sein, was Liebe am verlässlichsten lehrt: Unglück.

Niemand hat natürlich die durchschlagsfähige Kraft, nach den Maßgaben seiner Sehnsüchte Realität zu missachten und Abhängigkeit wahrhaft in Freiheit zu wandeln. Nur das eine in das andere umzulügen, das geht letztlich. Man nennt es Dichtung. Hölderlin vollendet sich auf diese Weise. In allen Lebensphasen triumphiert der Vers, und es gehört zu den Reizen dieser klugen, selbstbespiegelungsfreien Biografie, wie Safranski Hölderlins Dichtung auf eine sehr geschmeidige Weise des Zitierens zum dramaturgischen Motor erhebt.

Hölderlin! Hat sich ins Dunkel gerettet. Im Tübinger Turm, wo er lange, lange in der Obhut des Tischlermeisters Zimmer lebt. Dieser Dichter hat uns draußen im grellen, stechenden Licht der Jahrhunderte sitzenlassen - unter den Scheinwerfern der Geschichte, wo es keiner aushält. Die Tübinger Zelle als irr-sinniger Versuch, sich in Selbstauflösung gleichsam zu finden. Denn nur eine einzige Erkenntnis blieb nach all dem Leben draußen: »...ach, so seltene Tage: Tage der schönen Menschlichkeit, die Tage sicherer, furchtloser Güte.«

Das Beispiel dieses Einsamen: Da büßt einer auf eine so gnadenlose Weise für seinen Eigensinn, dass es die Deutschen hätte fortan schaudern müssen, mit diesem Namen leichtfertig, also mit falschestem Pathos umzugehen. Aber die Verwalter des unterdrückten Ruhms sind seit jeher abgebrüht und sich ihres Rechts so sicher. Fühllos sicher. Hölderlin ist zwischen den Ödköpfen des Patriotismus wie denen des Heimathasses umhergestoßen worden. Solche Leute glauben an sich, an sonst nichts, solange noch die Krähen höher fliegen als der Adler. Tote Seelen, die ihre unsterblichen Geister unter die Erde bringen und nichts von Auferstehung wissen.

Safranski nennt Hölderlin »revolutionsfromm«. Ein schönes Wort für das Faszinosum der Kunst: Es wurzelt in einem unerbittlichen Anspruch auf ein weltstürzendes Gelingen - das dem Leben selbst freilich weder zugemutet noch abgerungen werden kann. Dies Buch gibt Hölderlin sein Geheimnis zurück, dem mit politischer Terminologie nicht beizukommen ist. Als könne man Gottesfurcht folgenlos von Aufklärungsenergien trennen.

Vor allem ist es ein Buch gegen das Unernste, gegen eine zynische Literatur, die heutzutage lauter Narben produziert, ohne noch die Wunde zu brauchen. Nein, die wenigen, die der Allgemeinheit noch Kraft spenden, sie müssen Durchdrungene sein, nicht Durchblicker. Safranski schreibt durchdrungen - über einen Durchdrungenen. Diese Biographie geht davon aus, dass die fälligen Entblößungen am Menschen doch allesamt vorgenommen sind. In solch nackter Maskeradenzeit wie der unseren also noch verstörend zu bleiben, gelingt nur dem, der nicht noch weiter entblößt und Ideen nicht weiterhin lächerlich macht.

Zum Rätsel, das uns Hölderlins Sprechlage aufgibt, gehört nicht nur das Dunkel. Zum Werk gehört auch das Abweisende, das Brüske, das sich dem geübten Ergreifen entzieht. Das Wort, das bebend heranprallt, bleibt doch gleichzeitig entrückt, wie aus einer großen Ferne gesprochen. Sprache hat sich diesen Hölderlin ausgesucht, nicht umgekehrt. Es ist, als sei Dichters hoher Ton ein blindes Erstaunen, ein Wohnen jenseits der Sprache, die doch ihre Worte hergibt. Und an die der Dichter sich verlor - einer Idee wegen, die nicht den Turm wollte, sondern die freie Welt. Hölderlin lesen und erschauern. Darüber, dass das Schöne und das Gute keine Einheit bilden. Das Gute ist Kampf, und Kampf vernichtet. Der Glanz der Poesie besteht bis heute darin, dass sie alles sein kann, was man ihr zuschreibt und doch niemals darin aufgeht.

Rüdiger Safranski: Hölderlin. Komm! ins Offene, Freund! Biographie. Hanser Verlag, 336 S., geb,., 28 €.

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