Ich gestehe Textschwierigkeiten

Paul-Werner-Wagner lockt Menschen aus der Reserve

  • Lesedauer: 8 Min.

HANS-DIETER SCHÜTT: Es ist ein sehr seltsames Gefühl, wenn man sich vor Augen führt, wer alles auf diesem Stuhl hier saß, auf dem heute Paul Werner Wagner Platz nimmt. In den Biografien, die er hier in diesem Raum beleuchtet hat, kommen zwei Wahrheiten des Lebens zutage. Die eine Wahrheit in des Lebens Lauf: Erstens kommt es anders und zweitens, als man denkt. Aber es gibt eben auch noch die andere Wahrheit: Erstens kommt es anders und zweitens, weil man denkt. Das ist der große Bogen dieser Gesprächsreihe. Paul Werner Wagner, schlagen wir nicht gleich diesen großen Bogen, beginnen wir sehr alltäglich, sehr persönlich, mit Alternativfragen.

Stones oder Beatles?
Beatles.

Paul Werner Wagner

Wer anderen zuhört, hat Fragen an sich selbst. Ein wirkliches Befragen wird, wenn es aufrichtig geschieht, als notwendig erlebt: Man hört nur, was einem fehlt. Selbstbestätigung wäre das Gegenteil einer Gesprächsweise. Paul Werner Wagners Art folgt Hölderlin: Er führt kein Gespräch, nein – er und seine jeweiligen Gäste »sind ein Gespräch«.

Wagner, 1948 in Wolfen geboren, ist ein prägender Vermittler zwischen Kunstbetrieb und Publikum, zwischen Kulturinstitutionen und ihren öffentlichen Resonanzräumen. Er ist seit vielen Jahren Kurator zahlreicher Film- und Begegnungsreihen, er ist Vorsitzender der Friedrich-Wolf-Gesellschaft, er gibt Bücher und Schriften heraus. Ob Wagner Filmgespräche führt oder dieses nun schon legendäre Hallenser Forum betreibt – durch Lebenswege zu führen, das ist bei ihm wie das Ausbreiten einer Karte: Reisen, Wanderungen in Denklandschaften. Ein guter Interviewer ist freilich nur im Schein jemand, der sich zurückhält. Vielleicht ist das Interview die filigranste Form der Arroganz, weil man seine Antworten aufs Leben in Fragen an andere versteckt, und weil man im besten Falle – das hofft der Interviewer – aus einem Gespräch eine Art Zwei-Personen-Stück filtern kann. Kurator und Moderator Paul Werner Wagner kann es. Er führt Gespräche in Zeiten, da das Hasten und Hetzen die landläufige Art der Kommunikation geworden ist. Wagner pflegt den Kern des wirklich guten Gesprächs: Es ist Bewegung in einem Problemraum. Es ist Praxis, die einer wichtigen Erfahrung folgt: Sagen lassen sich die Leute nichts, erzählen alles.
Hans-Dieter Schütt

Goethe oder Schiller?
Goethe.

Das Meer oder die Berge?
Die Berge.

Whisky oder Wodka?
Whisky.

Hallescher FC oder Hertha BSC? Jetzt kommt also die erste Gewissensfrage.
Wenn ich hier in Halle bin - natürlich HFC.

Singen Sie eigentlich die deutsche Nationalhymne mit, wenn ein entsprechender Anlass gegeben ist?
Ich gestehe Textschwierigkeiten.

Sehr diplomatische Antwort. Sie haben als junger Mensch Gedichte geschrieben. Können Sie diese noch aus dem Kopf zitieren?
Nein.

Dann lese ich jetzt ein Gedicht vor, bei dem man sich vor Augen führen muss, dass es die Verse eines nicht mal Zwanzigjährigen sind, geschrieben in der DDR: »Freiheit ist ein schönes Wort / Klingt im Ohr noch lange fort / Wallt das Blut mir tüchtig auf / Schwört Begeisterung herauf / Ach, wäre dieses Wort doch wahr / Brächte uns die Einheit, wunderbar / Ließ ein vereintes Deutschland zu / Kämpfe, Freund, kämpfe auch du!« Wenn Sie dieses Gedicht nun wieder hören, was löst es in Ihnen aus? Milde gesagt: Sehr staatsfreundlich war es nicht.
Der Text erinnert mich daran, dass ich als junger Mensch die deutsche Teilung als etwas Nichthinnehmbares empfunden habe. Den Mauerbau 1961, diesen verhängnisvollen Sonntag im August, habe ich gewissermaßen auf gepackten Koffern erlebt. Es geschah vierzehn Tage vor unserem geplanten Weggang in den Westen. Alles war schon gerichtet, das Haus verkauft. Dann dieser Einschnitt. Ich habe geweint. Und mein Vater - Jahrgang 1902, er war schon 46 Jahre alt, als ich geboren wurde, also durchaus ein gesetzter, reifer Mann - sagte zu mir: »Werner, du musst nicht weinen, das lassen die Amerikaner nie zu.« Dieser Glaube, dass die Teilung politisch nicht hingenommen würde, war bei ihm sehr stark. Ich besaß diesen Glauben nicht, obwohl ich noch gar nicht so viel wusste über die politischen Kräftekonstellationen.

Warum wollten Sie überhaupt weg?
Das hing mit der Biografie meines Vaters zusammen. Er war privater Handwerksmeister, hatte eine Firma, also Maurerei, Zimmerei, Tischlerei - er hat Häuser mit gebaut und für die Filmfabrik Wolfen Aufträge erfüllt. In Spitzenzeiten arbeiteten sechzig Beschäftigte bei ihm. Er baute den Wolfener Fußballplatz, die Turnhalle, viele andere Objekte. Und er erlitt, was allen Selbstständigen in der DDR widerfuhr. Er musste Personal reduzieren, die Steuern stiegen ins Unerträgliche. Immer neue schikanöse Verordnungen. Und noch eine Steuerprüfung und noch eine. Er bekam kein Material. Gewinn war kaum noch möglich. Diese Sorgen kamen gewissermaßen mit auf den Abendbrottisch. Sie bedrückten. Im Jahr 1958 wurden im Kreis Bitterfeld, wenn ich mich recht erinnere, acht oder zehn selbstständige Handwerksmeister oder Busunternehmer verhaftet, wegen fingierter Steuerhinterziehungen. Das war das Drohsignal: Entweder ihr kollektiviert euch, gewissermaßen wie in der Landwirtschaft, oder es werden andere Saiten aufgezogen. So wurden die PGHs gegründet.

Produktionsgenossenschaften des Handwerks.
Ja, es gab Druck auf die selbstständigen Handwerksmeister. Mit sechs anderen schloss sich mein Vater zu so einer PGH zusammen, er wurde zum Vorsitzenden gewählt. Der Betrieb beschäftigte schließlich 120 Leute, alle mochten meinen Vater, ja, er war ein wunderbarer Mensch. Die Sorgen nahmen aber nicht ab, der Unmut aufs Regime blieb, also blieb auch der Drang, die DDR zu verlassen. Er wurde sogar stärker, aber mein Vater besaß auch ein sehr ernstes Verantwortungsbewusstsein in seiner neuen Funktion als PGH-Vorsitzender. Er wollte seine Leute nicht im Stich lassen. Kurz vor Ostern 1961 ging mein Bruder in den Westen. Da bald darauf die Mauer errichtet wurde, habe ich meinen Bruder bis zur Wende nicht mehr sehen können.

Nun ist diese unmittelbare Übertragbarkeit der elterlichen, vor allem der väterlichen Sorgen das eine. Das andere ist der Eigenwert, den eine Kindheit entwickelt. Sie sind ein Filmmensch: Liefe die Kindheit vor Ihren Augen wie ein Film ab, welche Szenen drängten sich auf, welche Stimmung?
Kurz und genau gesagt: Ich hatte eine wunderbare Kindheit - weil meine Eltern mich geliebt haben. Ich war ein Wunschkind. Allerdings verweigerte ich, zur Welt zu kommen.

Vorahnung.
Mag sein. Meine Mutter ist jedenfalls von einem Arzt zum anderen gegangen, und dann endlich kam es zur Geburt. Ich sollte allerdings ein Mädchen werden und hätte dann Heidi geheißen.

So ging’s schon mal mit einer Enttäuschung los.
Ja. (Lachen.) Meine Mutter war zunächst tatsächlich enttäuscht und hat mir später erzählt, sie habe mich nicht angesehen. Daraufhin, so sagte sie, hätte auch ich ihr als Säugling tagelang den Blick verwehrt. Ich muss etwas gespürt haben. Aber im Ernst und nochmal gesagt: Meine Eltern liebten mich. Mein Vater war ja als Handwerksmeister durchaus privilegiert, wir hatten in Wolfen ein Haus, einen riesengroßen Garten. Ich genoss viel Freiheit im Kleinen. Wenn ich an Kindheit denke, erinnere ich mich an meine intensive Nähe zur Natur, zu Tieren und Landschaft. Ich bin leidenschaftlich gern auf die Felder gezogen. Damals gab es noch das Hamstergraben. Ich war Hamstergräber - heute darf man das gar nicht mehr.

Nicht mal mehr sagen! Die Feldhamster sind so gut wie ausgestorben.
Ja, zu meiner Jugendzeit waren sie sogar eine Plage. Für die Felle gab es entsprechend Geld.

Wenn man mit Ihnen ins Gespräch kommt, dauert es nicht lange, und die Rede kommt auf den Fußball. Auch da gibt es doch bestimmt eine Wurzellegung in der Kindheit.
Unbedingt. Meine Eltern waren fußballbegeistert. Mein Vater war - wie man heute sagen würde - ein Sponsor für den Wolfener Fußball. Wenn Fußballer von einem anderen Verein nach Wolfen wechselten, durften sie nicht sofort in der Filmfabrik angestellt werden. Sie arbeiteten erst mal etwa acht Wochen, pro forma, bei meinem Vater. Er bezahlte sie. Zum Ausgleich wurden wir zu jedem Auswärtsspiel mitgenommen, und natürlich gingen wir regelmäßig ins Jahn-Stadion in Wolfen. Der Verein stieg 1952 in die zweithöchste Spielklasse der DDR auf - also, ich bin von anderthalb Jahren an beinahe jeden Sonntag auf dem Fußballplatz gewesen, bin mit Fußball groß geworden. Und hab dann auch selbst gespielt.

Paul-Werner Wagner - das ist natürlich zuvörderst Kunst und Kultur.
Das begann bei mir mit Puppentheater. Als ich zehn war, wünschte ich mir eine Puppenbühne - und bekam sie. Ich gab Vorstellungen in der Schule, vor den ersten Klassen, zum Pioniernachmittag. Die Bühne wurde größer und größer, mein Vater baute sie mir, der Handwerksmeister wurde mein Theaterarchitekt, ich nannte das Ganze »Wagners Puppenbühne«. Bis auf dreißig, vierzig Auftritte kam ich pro Jahr, alles ohne Mikro und mitunter vor vierhundert Kindern. Ein tolles Training für Öffentlichkeitsarbeit, auch für die Stimme. In der Erweiterten Oberschule avancierte ich zum Rezitator. Etwa beim Fahnenappell oder auf dem Gelände von Buchenwald, als die Bitterfelder Oberschule den Namen Ernst Thälmann erhielt und ich ein Gedicht sprach. Ein sehr emotionaler Moment.

Das Leben mag Kapriolen. Der Mauerbau verhinderte den Gang in den Westen, die Situation erzwang Gewöhnungen und Realismus. Sie legten Ihr Abitur ab und wollten Pädagogik studieren. Also: Arrangement mit der Lage. Wieso aber der Entschluss, Kandidat der SED zu werden?
Sie sagten ja, das Leben schlägt Kapriolen. Ich erlebte die Konflikte mit dem Staat, gleichzeitig aber war ich in meinem Elternhaus antifaschistisch erzogen worden. Der Vater meiner Mutter war Kommunist. Deren Bruder auch. Und ein Schwager meiner Mutter war Sozialdemokrat und roter Betriebsrat in der Filmfabrik Wolfen. Die drei wurden unmittelbar nach dem Reichstagsbrand 1933 verhaftet, kamen nach Torgau, in das berüchtigte Konzentrationslager Lichtenburg. Mein Großvater kam ins KZ Börgermoor - als Moorsoldat, wir kennen den Begriff aus dem legendären Lied von den Moorsoldaten. Meiner Großmutter schickte er sogar eine Postkarte mit dem Lied, sie hatte große Angst, dass diese gefunden werden könne, und verbrannte das wertvolle Dokument.

Antifaschismus nicht als Theorie, nicht als ideologischer Stoff, sondern ganz aus familiärer Erfahrung heraus.
Ja, das prägte meinen Geist, mein Empfinden. Mein Vater war 1921 als Neunzehnjähriger in den Leuna-Werken beim Aufstand der Arbeiter dabei. Er hat seine Erinnerungen aufgeschrieben, glücklicherweise.

Sie betonen das: glücklicherweise.
Es ist ein immer wiederkehrendes Versäumnis, dass von Generation zu Generation zu wenig weitergegeben wird. Zu viel geht mit in die Gräber. Deshalb hatte Heiner Müller recht, wenn er sagte: Unsere Zukunft kommt von den Toten. Ihr Wissen leitet uns.

Paul Werner Wagner und Hans-Dieter Schütt:
Lebens Traum und Lebens Lauf. Zeitgenossen aus Ost und West im Gespräch
Für die Friedrich-Ebert-Stiftung herausgegeben von Ringo Wagner, Quintus, 240 S., kt., 16,00 €

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