Zwei Meter Solidarität

Kampfstern Corona (Teil 3): Die Anderen sind gar nicht so schlimm

  • Jasper Nicolaisen
  • Lesedauer: 4 Min.

Bei einem meiner selten gewordenen Besuche auf Facebook sprang mir der Beitrag eines Kontaktes ins Auge: Wo denn die Intellektuellen und Künstler jetzt seien? Ob denn gar keine Einordnung und Deutung der Ereignisse rund um die Pandemie erfolgen wolle? Ob es, das war der Gipfel der wütenden Anklage, denn nur noch Zižek und Agamben gebe?

Ich bin, das möchte ich sofort gestehen, keiner der beiden exotisch-erotischen Denkweihnachtsmänner. Ich bin Teilzeitautor, Gelegenheitsjournalist und bei Nacht Therapeut, also durchaus eine Person, die bei erschütternden Ereignissen fragend angesehen wird. Habe ich denn also keinen hot take zu Corona?

Kampfstern Corona
Der Kampfstern Corona strahlt so hell, dass es weh tut. Besiegt uns das Virus oder macht es „nur“ unseren Alltag kaputt? Oder wird nun alles ganz anders? Beobachtungen und Überlegungen in loser Folge.

Nein. Und ich bin ganz froh darüber, dass es vielen anderen offenbar genauso geht. Hoffentlich, hoffentlich werden so viele Menschen wie möglich, am besten alle, vor dem Scheißvirus gerettet. Sehr gerne sterben darf aber endlich das Wettrennen in der Aufmerksamkeitsökonomie, das Bärtekraulen in eilfertigen Talkshows und die unheilige Magie der Medienwarenwirtschaft, per Eilmeldungsgeschwindigkeit schon Millisekunden vor Eintreten eines Ereignisses alles darüber gewusst zu haben.

Die Pandemie macht im besten Fall sprachlos. Das dürfte übrigens auch gerne für die sozialen Medien gelten, deren Giftigkeit sich jetzt umso mehr zeigt. Ein schwindelerregende Karussell des Immergleichen, der Fake News und Monstersichtungen in Venedigs Kanälen, weil ja etwas gesagt werden muss, wenn man jemand sein will. Zugegeben, ihren Nutzen haben die Plattformen, wo sie wirklich aufklären, für den einzelnen User Angst und Druck abbauen, für einsame Momente Gemeinsamkeit stiften. Aber dies ist auch mein Punkt. Sinnvoll ist jetzt nicht, etwas zu meinen, sondern sich in praktischer Solidarität zu üben. Auch virtuell, aber vor allem in dem, was den meisten Menschen bis letzte Woche noch unheimlich war, dem nächsten Umfeld, dem Heim, freilich im weitesten, unvölkischsten Sinne.

Denn die Pandemie verwandelt die Welt nicht grundsätzlich, sie macht nur alles schärfer und wirkt wie eine Lupe. Die Einsamen zu Hause, die prekär arbeitenden Künstler, die vergessenen und bei abgedrehten Ton bekämpften Menschen auf der Flucht, die heillos überlasteten Pflegekräfte und die schuftenden Kassierer gab es auch vorher schon. Das Gefälle zwischen Systemrelevanz und Lohn, der allzu oft nur in Applaus besteht, gab es vorher schon. Das nagende Gefühl, doch eigentlich einem reinen Bullshit-Job nachzugehen, der ohne Schaden für die Menschheit auch ein paar Wochen wegfallen könnte, gab es vorher schon, ebenso wie die Wut darüber, dennoch jeden Tag hingehen zu müssen. Die Ratlosigkeit gegenüber den eigenen Kindern und ihren Bedürfnissen gab es vorher schon, auch die bedrückende Gewissheit, dass ein großer Teil der Schulstunden Tinnef und Verwahrung ist, damit die Bullshit-Jobs weiterlaufen können, dass in zwei Stunden zu Hause besser und konzentrierter zu lernen wäre, das alles war schon präcoronales Wissen in den schlaflosen Stunden der Ausgebrannten. Die Pandemie bringt es an den Tag.

In diesem schmerzend grellen Licht ergibt sich - kein Geseier über Krankheit als Chance, die Situation ist ohne Wenn und Aber beschissen - die Chance, zunächst ... nun, eben nichts zu sagen. Sich einzugestehen: Ich weiß es nicht. Wie wichtig ist das! Von da aus könnte man sich vortasten. Zum Beispiel, wie es viel schon passiert, erst einmal zu einer alltäglichen Freundlichkeit und Nachsicht kommen. Die anderen machen viel ärgerlichen Quatsch, aber sie haben etwas mit mir gemeinsam. Sie wissen auch nicht weiter. Da ist sie, die Solidarität.

Die anderen sind gar nicht so schlimm. Ich muss sie nicht lieb haben. Aber sie sind mir nicht fremd. Wir haben gemeinsame Ängste und Interessen. Unser Handeln bewirkt etwas. Wie es ist, muss es plötzlich nicht mehr bleiben.

Auch die doofen Rentner von nebenan sollen bitte nicht verhungern. Auch meine nervigen Kinder tragen noch was zu meiner Menschwerdung bei, wenn ich sie mal nicht als Hindernis beim Roboten erleben muss. Auch meine Partnerin träumt vielleicht in der Stille der Quarantäne von einem unbekannten Körper. Aussortiert wie wir, nur furchtbarer!, sind auch die in den Lagern vor Europas Mauern. Zurecht zornig sind die Arbeitenden in den Autoschmieden Italiens.

Ich will doch auch nicht mehr in den Laden, dessen Sinnlosigkeit jetzt so klar zutage tritt! Wenn plötzlich Staat und Kapital jeden Preis zu zahlen bereit sind, damit die, die gestern noch als nutzlose Esser in die Eigenverantwortung gelabert wurden, keinen Rabatz machen, dann, ja dann gibt es dieses Geld ja offenbar irgendwo.

Selbst, wenn alles glimpflich abläuft, werden in Europa und der ganzen Welt bald Millionen von Gespenstern umgehen. Wenn unter dem Saum ihrer klammen Laken individuelle Hilfsbereitschaft wächst, aus der Solidarität entsteht, dann kann das Leben praktisch werden, ganz ohne Gott, Kaiser oder Tribun. Aber was weiß ich schon. Fürs erste halte ich in der Schlange beim Brötchenholen in zärtlicher Solidarität zwei Meter Abstand.

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