Kein Entkommen mehr

Frauenhäuser und Beratungsstellen rechnen mit einem deutlichen Anstieg häuslicher Gewalt infolge der Corona-Maßnahmen

  • Vanessa Fischer
  • Lesedauer: 4 Min.

Dass sich der Alltag wegen der Coronavirus-Pandemie plötzlich nur noch zu Hause abspielt, im engsten Kreis, kann gefährlich werden. »Die Situation ist dramatisch«, sagt Sylvia Haller von der Zentralen Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser (ZIF). Diese vertritt 130 der 350 bundesweiten Schutzeinrichtungen für Gewaltbetroffene und rechnet infolge der Infektionsschutzmaßnahmen in den nächsten Wochen mit einer deutlichen Zunahme häuslicher und sexualisierter Gewalttaten. »Wir kennen das schon aus eigentlich schöneren Anlässen, den Ferien etwa, wenn Familien viel Zeit gemeinsam verbringen«, erklärte Haller im Gespräch mit »nd«. Zahlen gebe es bisher zwar nicht, die Rückmeldungen aus den Häusern seien aber eindeutig.

Auch die Beratungsstellen seien alarmiert, sagte Jenny-Kerstin Bauer vom Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (BFF) dem »nd« am Mittwoch. »Gewalttäter verlassen jetzt weniger das Haus«, so Bauer. Das erschwere es Betroffenen, sich Hilfe zu holen. Was bleibt, sind Telefonangebote. Auch das ist eine Herausforderung für die Beratungsstellen, denn »der Vertrauensaufbau ist viel schwieriger, wenn kein persönlicher Kontakt stattfindet«, sagt Bauer. Die Anzahl der Anrufe sei in den vergangenen Tagen dennoch gestiegen. »Den großen Run auf die Fachberatungsstellen wird es aber erst nach der Rücknahme der Kontaktsperre geben«, prognostiziert Bauer.

In China ist die Scheidungsrate nach der Quarantäne tatsächlich gestiegen, die Termine sind auf Wochen ausgebucht, berichtet die regierungsnahe Zeitung »Global Times«. Laut der Pekinger Frauenrechtsorganisation »Weiping« war die Zahl der Beschwerden über häusliche Gewalt dreimal so hoch wie sonst.

»Für betroffene Frauen gibt es im Quarantänefall kein Entkommen mehr, das kann sogar eine tödliche Falle werden«, befürchtet auch die frauenpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, Cornelia Möhring. Weil Frauenhäuser auch schon vor der Corona-Krise unterfinanziert waren und es zu wenige Plätze gab, fordert sie die Bundesregierung auf, den Ländern nun Mittel für die schnelle Bereitstellung von Notunterkünften zur Verfügung zu stellen, etwa in Hotels.

Die Herausforderung für viele Frauenhäuser besteht derzeit auch darin, das Infektionsrisiko möglichst gering zu halten, berichtet Sylvia Haller von der ZIF. Das sei nicht immer leicht, denn meist teilen sich viele Frauen ein Bad und eine Küche. »Unsere Mitarbeiterinnen sind aber wahnsinnig kreativ«, sagt Haller. So würden einzelne Häuser etwa über die Möglichkeit eines Quarantäne-Stockwerks nachdenken. Weil es allerdings schon »vor Corona an Kapazitäten fehlte«, sei dies nicht überall möglich. Nach Angaben des Bundesfrauenministeriums ist in Deutschland jede dritte Frau mindestens einmal in ihrem Leben von physischer oder sexualisierter Gewalt betroffen - etwa jede Vierte durch ihren aktuellen oder früheren Partner. Die ohnehin unterfinanzierten und mangelhaft ausgestatteten Frauenhäuser würden in absehbarer Zeit an ihre Grenzen kommen, so Haller.

Doch nicht nur für Frauen, auch für Kinder und Jugendliche können Ausgangsbeschränkungen während der Corona-Krise gefährlich werden. »Weil häusliche und sexualisierte Gewalt meist im Nahumfeld passiert«, sagte Lisa Monz von der Bundeskoordinierung spezialisierter Fachberatung gegen sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend (BKSF) dem »nd«. Bereits jetzt seien laufende Hilfen vom Jugendamt unterbrochen worden. Für Kinder und Jugendliche sei damit der Kontakt zu ihrem Hilfenetzwerk erschwert. »Auch die telefonische Kontaktaufnahme ist für Kinder schwieriger«, so Monz. Viele Angebote seien »weniger bekannt.« Die BKSF hoffe, dass der geplante Rettungsschirm auch für Fachberatungsstellen gegen Gewalt gelte. Sie fordert den Ausbau der Online- und Telefonangebote sowie verstärkte Öffentlichkeitsarbeit, damit Betroffene erfahren, wie sie auch während eines Lockdowns Hilfe bekommen.

Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) betonte am Dienstag, dass Betroffene auch während der Quarantäne das Haus verlassen dürften, um sich Hilfe zu holen. »Das ist ein triftiger Grund«, sagte sie. Hotlines seien erreichbar und würden angesichts der Pandemie ausgebaut, so die Ministerin. Weil jetzt auch mögliche Vertrauenspersonen wie Erzieherinnen oder Lehrerinnen wegfallen, sei das soziale Umfeld umso mehr gefragt, sagt Sylvia Haller. Das betreffe auch Nachbar*innen, die nun genau hinhören und gegebenenfalls auch die Polizei alarmieren sollten. »Es braucht jetzt trotz Distanz Zusammenhalt.«

Hilfetelefon: 08000-116016.

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