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Leb wohl, Panoptikum der Piefigkeit

Am Sonntag wird die letzte Folge der »Lindenstraße« gesendet.

  • Marcel Bois Salvador Oberhaus
  • Lesedauer: 5 Min.

Wie gehen wohl die Bewohnerinnen und Bewohner der »Lindenstraße« mit der Coronakrise um? Begibt sich Mutter Beimer freiwillig in die soziale Isolation? Überlebt das krisengeschüttelte Restaurant »Akropolis« den Lockdown? Und findet Prepper Ronald Landmann nun doch noch Verwendung für die gehorteten Lebensmittel aus seiner Garage?

Wir werden es nie erfahren. Denn am Sonntag ist Schluss. Nach mehr als 34 Jahren. »Auf Wiedersehen« heißt die letzte Folge, sie trägt die Nummer 1758. Doch ein Wiedersehen wird es kaum geben. Nachdem die ARD vor mehr als einem Jahr die Absetzung bekannt gab, fand sich kein Sender, der die Soap weiterführen wollte. Auch eine Fandemonstration in Köln bewirkte nichts. Mittlerweile sind die Kulissen abgebaut, im Dezember wurden die letzten Folgen abgedreht und die Ensemblemitglieder haben ihre Kündigungsschreiben erhalten. Es endet ein Stück bundesrepublikanische Fernsehgeschichte.

Wäre es anders gekommen, dann hätte sich die »Lindenstraße« zweifellos zu Covid-19 verhalten. Aktualität gehörte zum Konzept der Serie. Sonntags ausgestrahlt spielte sie immer am vorangegangenen Donnerstag. Fast immer nahm sie zumindest in einer Sequenz Bezug auf ein aktuelles Ereignis. Immer wieder drehten die Macherinnen und Macher auch noch kurz vor dem Ausstrahlungstermin Szenen mit aktuellem Inhalt nach. So kommentierten im September 2009 die Mitglieder der Serien-Wohngemeinschaft die ersten Hochrechnungen der Bundestagswahl - nur wenige Minuten nachdem diese in der realen Welt bekannt gegeben wurden.

Schon das zeigt, dass die »Lindenstraße« mehr war als eine gewöhnliche Soap. Während die Figuren ähnlicher Formate nicht arbeiten und trotzdem in teuren Lofts wohnen, wollte Schöpfer Hans W. Geißendörfer den Alltag ganz normaler Menschen in einer westdeutschen Durchschnittsstraße zeigen - mit all ihren Problemen: Arbeitslosigkeit, Krankheiten und Geldsorgen. Zugleich spiegelt die Bewohnerschaft die Diversität der deutschen Gesellschaft wider: Hier lebten auch Homosexuelle, Transpersonen, Migrantinnen und Migranten. Anfang 2017 zog eine tunesische Flüchtlingsfamilie ein.

Dieser Ansatz brachte Geißendörfer gleichsam Lob wie Häme ein. 1989 wurde er für die »realistische Darstellung des deutschen Alltagslebens« mit dem »Bambi« ausgezeichnet. Derweil bezeichnete die »Welt« die »Lindenstraße« als »erste Soap im deutschen Fernsehen mit Ausländerquote«. Und der »Spiegel« spottete, sie sei ein »Panoptikum der Piefigkeit«.

Dabei gehörte »Piefigkeit« zum Konzept. Wer in den 1980er Jahren bundesrepublikanische Realität abbilden wollte, der konnte nicht auf die grantige Hausmeisterin oder den Naziopa verzichten. Aber die »Lindenstraße« zeigte eben auch die andere Seite: Ihre Bewohnerinnen und Bewohner kämpften gegen Atomkraft, engagierten sich gegen Abschiebungen oder wehrten sich zuletzt gegen die Gentrifizierung ihrer Straße.

Als Geißendörfer seine Serie 1985 ins Leben rief, war er ein gefeierter junger Autorenfilmer. Er arbeitete mit Bruno Ganz, Geraldine Chaplin und Kameramann Michael Ballhaus zusammen. Mit Regisseuren wie Wim Wenders oder Peter Lilienthal hatte er den genossenschaftlichen Filmverlag der Autoren gegründet. Sein Streifen »Die gläserne Zelle« wurde 1978 als bester fremdsprachiger Film für den Oscar nominiert.

Allerdings befand sich der Neue Deutsche Film Mitte der 1980er Jahre bereits im Niedergang, spätestens seit dem Tod seines berühmtesten Vertreters Rainer Werner Fassbinder. Gleichwohl versuchte Geißendörfer den Ansatz, Denkanstöße für die Zuschauerinnen und Zuschauer zu geben, in seine Serie hinüberzuretten. Oft wagte er sich dabei auch an gesellschaftlich brisante Themen. Ob HIV, Prostitution oder Sterbehilfe, Kindsmord und Drogensucht - die »Lindenstraße« ließ in den vergangenen drei Jahrzehnten kaum etwas aus. Als hier einer der ersten schwulen Küsse im deutschen Fernsehen gezeigt wurde, erhielten die beiden Darsteller Morddrohungen. Der Bayerische Rundfunk weigerte sich, eine Wiederholung der entsprechenden Folge auszustrahlen.

Geißendörfer war keineswegs ein Einzelkämpfer. Zum »Lindenstraßen«-Ensemble gehörten immer auch Schauspielerinnen und Schauspieler, die sich im realen Leben politisch engagierten - etwa der Altlinke Harry Rowohlt, der neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit über Jahre hinweg den Obdachlosen der Straße verkörperte. Kostas Papanastasiou, der den griechischen Wirt Panaiotis Sarikakis spielte, hatte sich bereits Ende der 1960er Jahre gegen die Militärjunta in seinem Heimatland engagiert. Während der Eurokrise kritisierte er öffentlich den antigriechischen Rassismus in Deutschland. Zuletzt machte Darsteller Gunnar Solka (»Peter ‚Lotti‘ Lottmann«) mit einem Spot über das Sterben von Geflüchteten im Mittelmeer auf sich aufmerksam. Auch seine Kollegin Sara Turchetto (»Marcella Varese«) wirkte hier mit.

Wegen ihrer politischen Haltung wurde die »Lindenstraße« immer wieder angefeindet. Im Februar 2010 erhob die FDP beispielsweise den Vorwurf der »einseitigen Parteinahme«, nachdem Akteure sich in der Serie kritisch über die Steuerpolitik der Liberalen geäußert hatten. Selbst die Zuschauerinnen und Zuschauer waren wohl nicht immer einverstanden. »Es gab oftmals Beschwerden von unserer Fangemeinde. Die sagten, die sympathischen Charaktere seien immer ein bisschen mehr links orientiert, während die Unsympathischeren eher rechts seien«, berichtet Turchetto vor einigen Jahren in einem Interview.

Doch war das berechtigt? Kann eine Unterhaltungsserie tatsächlich politischen Einfluss nehmen? Das fragten sich im Jahr 2012 auch Kommunikationswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler der Universität Düsseldorf und untersuchten inwieweit der Konsum der »Lindenstraße« die politischen Einstellungen des Publikums beeinflusse. Zwar kamen sie zu dem Ergebnis, dass sich Ansichten und Handlungen kaum veränderten. Doch zugleich zeigte ihre Studie, dass sich bereits nach wenigen Folgen die Einschätzung der politischen Wichtigkeit der dort behandelten Themen erhöhe. Die »Lindenstraße« hat demnach zur politischen Sensibilisierung im Publikum beigetragen.

Wie stark die politische Wirkmächtigkeit der Serie war, lässt sich wahrscheinlich nur schwer beziffern. Fest steht aber in jedem Fall: Mit dem Ende der »Lindenstraße« geht ein Format des politisch intervenierenden Unterhaltungsfernsehens verloren, das sich tief ins popkulturelle Gedächtnis der Bundesrepublik eingeschrieben hat. Die ARD begründet die Absetzung mit kontinuierlich sinkenden Quoten und hohen Produktionskosten. Über politische Motive für diesen Schritt wird man aber zumindest nachdenken dürfen.

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