»Schule nicht simulieren«

Wie viel Lehrer von ihren Schülern erwarten dürfen, die derzeit zu Hause lernen müssen

Derzeit macht die Wutrede einer gestressten Mutter aus Israel im Internet die Runde. Anderthalb Minuten schimpft sie in diesem Video über die Unmöglichkeit, ihre vier Kinder beim Fernunterricht zu betreuen. »Ich habe nur zwei Computer. Jeden Morgen kämpfen sie darum.« Denn Punkt acht Uhr sind die Aufgaben von sämtlichen Lehrern da, einer wartet im Videochat und der Musiklehrer ihres jüngsten Sohnes hat Noten geschickt. Ihr wütender Appell: »Kommt runter, senkt eure Erwartungen!«

Auch in Deutschland berichten Eltern von Jugendlichen, die in Tränen ausbrechen angesichts des Aufgabenpensums, das ihre Lehrer für die Zeit der Schulschließung verordnen. Manch Fünftklässler sitzt zu Hause länger »im Unterricht«, als er in der Schule gewesen wäre. Nicht überall ist das Pensum zum Weinen, das unterscheidet sich schon von Lehrerin zu Lehrer, aber klar ist doch: Der Fernunterricht verlangt allen Beteiligten einiges ab. Lehrer mussten über Nacht ihre Unterrichtspläne auf digital umschalten, Schüler mehr oder weniger auf sich allein gestellt Wochenaufgaben lösen und Eltern insbesondere den Jüngeren zur Seite stehen, während sie selbst im Homeoffice arbeiten und möglicherweise noch Kitakinder bei Laune halten müssen. Die Frage ist: Wie viel Leistung dürfen Schulen unter den aktuellen Ausnahmebedingungen ihren Schülern abverlangen?

Mit dieser Situation hat niemand Erfahrung. Meist entscheidet jeder Lehrer für sich, wie viel er den Kindern aufgibt und ohne zu wissen, wie das die Kollegen handhaben, wie ein Gymnasiallehrer in Berlin berichtet. Insgesamt, so der Eindruck von Ilka Hoffmann, Schulexpertin der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), pendelt sich inzwischen aber manch anfänglicher Übereifer auf ein »pragmatisches Maß« ein.

Die Schulministerien geben dabei nur Rahmenbedingungen vor. In Thüringen etwa heißt es: Die Schulen sind zu, aber das Lernen geht weiter. Was und wie viel, liege in der Eigenverantwortung der Lehrer und Schulen, die das am besten einschätzen könnten. Diese Linie gilt auch in Berlin. Prinzipiell solle der gleiche Unterrichtsstoff vermittelt werden, der ansonsten vor Ort in den Schulen gelehrt werden würde. Anders ist der Zungenschlag in Nordrhein-Westfalen, wo man davon ausgeht, dass bis zu den Osterferien der Unterricht »ruht«. So sollen zwar Aufgaben für zu Hause zur Verfügung gestellt werden, diese würden aber »in aller Regel nicht benotet«. Und klar sei auch, dass es sich dabei »grundsätzlich nicht um Inhalte von Prüfungsrelevanz handeln kann«, heißt es aus dem Schulministerium NRW. In anderen Bundesländern wie etwa Thüringen laufen derzeit Diskussionen, ob die Aufgaben, die während der Schulschließungen gegeben werden, bewertet werden sollen. Ganz abgesehen von der Frage, wie Abiturprüfungen unter diesen Bedingungen stattfinden können.

Zensuren würden den Leistungsdruck verschärfen, dem Schüler in Corona-Zeiten ausgesetzt sind. Fürsprecher sagen, nur dadurch lasse sich bei einigen sicherstellen, dass sie die Aufgaben bearbeiten. Aus Sicht der Gewerkschafterin Hoffmann könnte man auf Noten jedoch weitgehend verzichten. Die Lernbedingungen seien derart unterschiedlich, dass aus Bewertungen Ungerechtigkeiten entstünden. Nicht jede Familie hat genug Rechner, manche Wohnung gar keinen ruhigen Arbeitsplatz für das Kind, nicht alle Eltern verfügen über genug Zeit oder die Fähigkeiten, ihren Kindern bei den Schulaufgaben zu helfen. Vor dem Hintergrund, dass das deutsche Bildungssystem schon jetzt stark von sozialer Ungleichheit geprägt ist, warnt Hoffmann: »Die sozialen Unterschiede werden sich verschärfen.«

In den Bundesländern ist man sich dessen bewusst und sucht nach Lösungen. In Berlin etwa sind Schulsozialarbeiter angehalten, Angebote zu machen und Familien auf Wunsch zu Hause zu besuchen. Zudem wird geprüft, ob Schulen Computer verleihen könnten. Hoffmann, die selbst viele Jahre als Lehrerin gearbeitet hat, sagt: »Man kann den Schulalltag zu Hause nicht simulieren.« Aus ihrer Sicht müsste derzeit im Vordergrund stehen, dass die Kinder »im Lernen bleiben und nicht zu viel vergessen«. Alles andere, neuer Stoff oder Bewertungen, steht für sie hintenan. Soll heißen: Wir sollten uns einfach mal ein bisschen locker machen.

Eine Berliner Grundschullehrerin verfolgt genau diesen Ansatz. Seit die Schule wegen Corona zu ist, lässt sie die normalen Lernmaterialien beiseite. Die Situation sei angespannt genug. »Da muss ich die Kinder nicht auch noch Stunden an ihre Arbeitshefte setzen.« Zudem würde der Abstand zwischen den Schülern am Ende nur noch größer als bisher. »Einige Kinder würden drei Hefte durchgearbeitet haben, andere keines.« Statt auf Leistung setzt die Pädagogin auf Spaß und Kreativität: In ihrem Wochenplan für die ersten bis dritten Klassen sollen die Schüler dann etwa eine Stadt aus Kochtopftürmen bauen und abzeichnen oder sich das längste Bandwurmwort ausdenken und die Silben im Treppenhaus hüpfen. Wer »Schokoladensilberpapiereinwickelmaschine« auf der Treppe gehüpft ist, hat ja auch irgendwie Leistung gebracht.

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