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Torschlusspanik
Der deutsche Profifußball beschwört sein eigenes Ende – um schneller als andere wieder zur Normalität zurückkehren zu können
David Graeber ist Ethnologe. Früher lehrte der Professor an der Universität Yale. Heute unterrichtet der US-Amerikaner an der renommierten London School of Economics. Wissenschaftliche Reputation kann der Kapitalismuskritiker - unter anderem Mitbegründer der Organisation Occupy Wall Street - genug aufweisen. Es brauchte aber wieder eine Krise wie die jetzige um das Coronavirus, um seine Thesen herrschaftstauglich werden zu lassen. Im Mai 2018 erschien Graebers Buch »Bullshit Jobs« - Thema: sinnvolle Arbeit. Jetzt, erzählte er der »Zeit«, habe die Regierung in Großbritannien eine Liste mit den systemrelevanten Berufen zusammengestellt. Sie besteche durch die erstaunliche Abwesenheit von Unternehmensberatern und Hedgefondsmanagern. »Die, die am meisten verdienen, tauchen da nicht auf«, sagt der 59-Jährige.
Diese Diskussionen erleben wir in der Zeit einer Pandemie natürlich auch hierzulande. Schwierigkeiten mit dem Verzicht, haben vor allem jene, die schon zuvor in einer Parallelwelt gelebt haben. Beispielsweise der deutsche Profifußball. Ist er systemrelevant? Ein klares Nein! Nimmt man aber die Deutsche Fußball Liga (DFL) ernst, also beim Wort, könnte laut einstimmigem Beschluss der 36 Erst- und Zweitligisten vom Dienstag schon im Mai wieder gespielt werden.
Lex Profifußball
»Wer wie viel verdient, das ist eine politische Machtfrage«, fasst David Graeber seine Beobachtungen des sogenannten Marktes zusammen. Seit Mittwoch kursiert vermehrt der Begriff »Lex Profifußball« in den Medien. Für das unterhaltsame Spiel mit dem Ball könnte Graebers wissenschaftliche Erkenntnis ganz frei übersetzt also bedeuten: Wer darf schneller zur Normalität zurückkehren als andere? Auch dafür beschwört der Profifußball seit Anfang der Krise sein eigenes Ende.
Trotz der Untergangsszenarien ist Karl-Heinz Rummenigge aber »optimistisch, dass wir am Ende alle mit einem blauen Auge davonkommen.« Warum? Die Antwort kommt ebenfalls vom Vorstandschef des FC Bayern München: »Wir sind alle mit den entscheidenden Leuten in Kontakt.« Er selbst mit Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, sein Dortmunder Kollege Hans-Joachim Watzke »mit Herrn Laschet in Nordrhein-Westfalen«, und DFL-Chef Christian Seifert habe viel Kontakt mit Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. Schon in der vergangenen Woche verriet ein Experte aus Kreisen des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) dem »Spiegel« bezüglich der Entscheidungsgewalt von Politikern und Behörden: »Man wird sich für den Fußball entscheiden.«
Brot und Spiele
Die Frage nach der Systemrelevanz stellt auch Kurt Denk. Als Sportveranstalter hat er beispielsweise den Ironman der Triathleten nach Frankfurt am Main gebracht. Am Mittwoch sagte er: »Der Profifußball muss aufpassen, dass ihm durch seine abgehobene Sicht nicht das gierige Boni-Banker-Image droht.« Für das Miteinander der Gesellschaft wäre es wichtiger, Firmen und Betriebe am Laufen zu halten als die Brot-und-Spiele-Geschichte.
Nun muss man dem Profisport nicht wie Denk gleich ein ganzes Jahr Pause vorschlagen. Aber etwas Ehrlichkeit und Transparenz fordern, das geht schon. Viel interessanter als die Information der DFL, dass der Spielbetrieb in der 1. und 2. Bundesliga bis mindestens 30. April ausgesetzt wird, wären »die Szenarien und denkbaren Handlungsoptionen für die kommenden Wochen und Monate«, die auf der Videokonferenz am Dienstag vorgestellt wurden. Darüber ist aber nichts zu erfahren. Dabei ist es ja längst kein Geheimnis mehr, dass jeder Verein gerade an seinem eigenen Worst-Case-Szenario arbeitet.
»Ein irres Ding«
Der 20. April steht bislang weitgehend als Stichtag für ein Ende des gesellschaftlichen Ausnahmezustands. Angesichts weiterhin steigender Infektionszahlen mit dem Coronavirus wird jedoch über eine Verlängerung nicht nur leise nachgedacht. Am Mittwoch wurde das Tennisturnier von Wimbledon komplett abgesagt, es sollte vom 29. Juni bis 12. Juli in London gespielt werden. Die DFL aber hangelt sich von einer kurzfristigen Verschiebung zur nächsten. Eines hat der Ligaverband immerhin deutlich gemacht: Spiele vor Zuschauern werde es in dieser Saison nicht mehr geben. Aber selbst das hält Kurt Denk derzeit für unangebracht: »Wir können doch nicht Geisterspiele veranstalten, bei denen sich in abgeschirmten Arenen 22 Millionäre über den Rasen bewegen, während draußen die Zahl der Kurzarbeiter in die Höhe geht. Das ist ein irres Ding.« Da werden auch die bemerkenswerten Worte von Rafal Gikiewicz wieder aktuell. »Fußballer werden in dieser Situation wie Affen im Zirkus behandelt«, sagte der Torwart des 1. FC Union Berlin, als die DFL Mitte März noch bis zuletzt an der Austragung des 26. Spieltags festhielt.
Erweiterten Spielraum für die nationalen Ligen, auch über den 30. Juni als Ende einer jeden regulären Saison hinaus, ermöglichte auch die UEFA mit der Verschiebung der Europameisterschaft ins kommende Jahr. Am Mittwoch sagte der europäische Verband zudem die für Juni geplanten Länderspiele ab. Auf unbestimmte Zeit ist die Fortsetzung der Champions League und der Europa League verschoben. Dafür, dass UEFA-Präsident Aleksandar Ceferin sogar einen Abbruch der Klubwettbewerbe in Erwägung zieht, erntete er große Kritik von Karl-Heinz Rummenigge. »Das bringt Verunsicherung«, meinte Bayern Münchens Chef. Dessen Sorgen galten - dem »Fußballmarkt«. Damit lässt sich wohl auch das unwürdige Termingeschiebe der DFL erklären.
Untergang des DFL-Imperiums
Wie dieser Fußballmarkt funktioniert, zeigt beispielsweise der FC Schalke 04. Seit zehn Jahren darf der Verein mit Schulden zwischen 200 und 250 Millionen Euro jonglieren. Selbst der Rekordgewinn von 40 Millionen Euro im Jahr 2018 änderte daran kaum etwas. Wichtiger als vernünftiges Wirtschaften ist eben der Erfolg - und dafür hat der Verein in diesen zehn Jahren bei Spielertransfers mehr als 40 Millionen Euro Verlust gemacht, Zahlungen an Spielerberater und Handgelder nicht inbegriffen. Am Dienstag beantragte Schalke nun für einen Teil seiner 600 Beschäftigten Kurzarbeit. Die Bundesagentur für Arbeit wird sich freuen.
Darf man also davon ausgehen, dass Schalke 04 zu dem Drittel der Erstligisten zählt, denen bei einem Saisonabbruch ob fehlender Einnahmen angeblich das Ende droht? Man sollte davon ausgehen - wie schlimm wäre es sonst um den Zustand der Bundesliga bestellt? Es sei denn, man zweifelt am bevorstehenden Untergang des DFL-Imperiums mit dem letztjährigen Rekordumsatz von mehr vier Milliarden Euro. Konkretes gibt es jedenfalls nicht - nur immer wieder diese düsteren Prophezeiungen, gar die Hälfte aller Zweitligisten würden nicht überleben.
Eine Zahl hingegen wird bei jeder Gelegenheit genannt: Bei einem Saisonabbruch drohe der Verlust von 770 Millionen Euro. Klingt erst mal viel. Aber schon bei der Frage nach der Zusammensetzung wird es wieder diffus. Fernsehrechte, Kartenverkauf, Sponsoring, so was halt. Wenn man diese enorme Summe durch 36, die Anzahl der betreffenden Klubs, teilt, entfallen auf jeden rund 21 Millionen Euro. Klingt auch noch viel, vor allem für den SV Sandhausen. Da aber der Zweitligist aus dem Rhein-Neckar-Kreis nur rund 8,7 Millionen von den insgesamt in dieser Saison zu verteilenden 1,16 Milliarden Euro erhält, relativiert sich schon beim Blick auf das Fernsehgeld einiges.
Es lohnt aber auch gar nicht, mit dem Rechnen anzufangen. Weil die DFL, abgesehen von der furchteinflößenden Zahl 770 Millionen, mit verdeckten Karten spielt. Wie viel haben und werden die Vereine über Spendenaktionen ihrer Fans einnehmen? Ist mit dem Ausfall des Sponsorings jeder Vertragsbruch gemeint, den DFL und Vereine mit nicht gespielten Partien begehen werden? Oder bleiben die Sponsoren trotzdem einer der begehrtesten Branchen treu? Lassen sich mit den TV-Partnern kurz vor der Vergabe der neuen Medienrechte wirklich keine Kompromisse finden? Gespräche darüber soll es ja schon gegeben haben.
Neue Fußballwelt
Und dann wären da noch die als Millionäre in kurzen Hosen beschimpften Fußballer. Am Mittwoch haben wieder einige von ihnen den Ernst der Lage erkannt. Bei RB Leipzig, 1899 Hoffenheim und Bayer Leverkusen erklärten sich die Spieler zu einem Gehaltsverzicht bereit, am Donnerstag folgten die Profis in Wolfsburg und Bremen. In Mönchengladbach ist das schon vor zwei Wochen geschehen. Was das zusammen mit anderen Maßnahmen bewirken kann, vermeldete ein anderer Bundesligist. Mainz 05 hat seine wirtschaftliche Planung für diese Saison komplett überarbeitet und ein Einsparpotenzial von rund zehn Millionen Euro ermittelt.
Ist das der Weg aus Krise? Oder gar mehr? »Eine neue Fußballwelt« wie Uli Hoeneß prophezeien derzeit ja viele. Der Wissenschaftler David Graeber kann von anderen Erfahrungen berichten, beispielsweise nach der großen Finanzkrise im Jahr 2008: »Die neoliberale Politik und die Finanzindustrie haben einfach weitergemacht wie davor.« Für das System Profifußball ist Ähnliches zu befürchten. Dazu genügt ein Blick in die Vergangenheit. Wie groß war die Empörung, als Neymar im Sommer 2017 für 222 Millionen Euro von Barcelona nach Paris gewechselt war. Sogar der FC Bayern verfluchte »diesen Wahnsinn«. Selber aber gaben die Münchner in den vergangenen fünf Jahren 430 Millionen Euro für neue Spieler aus. Den Blick in die Zukunft mag man kaum wagen. Nur so viel: »Man müsste möglicherweise Investoren gestatten, dass sie frisches Geld in die Vereine bringen«, lautet ein Lösungsansatz von Karl-Heinz Rummenigge. Schlimmer geht’s immer.
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