Wissenschaft im Shutdown

Wie kann unter Corona-Beschränkungen Lehre und Forschung überhaupt noch stattfinden?

  • Manfred Ronzheimer
  • Lesedauer: 4 Min.

Ein Virus, mit dem Wissenschaft noch nicht fertig geworden ist, hat einstweilen das Wissenschaftssystem atomisiert, auch in Deutschland. Die zentralen Orte des akademischen Lebens, die Hochschulen und Forschungszentren, sind praktisch geschlossen. Studierende und wissenschaftliche Beschäftige versuchen aus ihren privaten Homeoffices heraus, im Krisenmodus weiterhin in Lehre und Forschung zu kooperieren. Die Alma Mater ist nur über den Cyber Space erreichbar. Vorlesungen, Konferenzen, Prüfungen - alles findet nur noch virtuell statt.

Zum 1. April hat das Sommersemester an den Hochschulen begonnen - eigentlich. »Aber wir stehen vor einem Semester, das völlig anders werden wird als alles, was wir bisher erlebt haben«, sagt Carsten Busch, der Präsident der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) in Berlin. Der Informatiker Busch, der die mit rund 14 000 Studierenden größte Fachhochschule im Osten Deutschlands seit dem vorigen Jahr als Präsident führt, sitzt wie alle anderen in seinem Homeoffice. Krisenmanagement heißt sein Hauptfach im E-Learning. Zwei Mal in der Woche begibt er sich in sein Präsidentenbüro. »Ganz allein durch die Flure, das ist schon etwas unheimlich«, bemerkt er.

Die große Herausforderung an den Hochschulen ist - so wie beim Abitur im Schulbereich - im Sommersemester zu regulären Prüfungen und Zeugnissen zu kommen. Ab dem 20. April soll ein virtueller Vorlesungsbetrieb beginnen. »Wir haben mit Ihnen allen ein gemeinsames Ziel: Gute Studienabschlüsse«, schrieb Busch in einer Rundmail an seine Studierenden.

Was genau im Mai oder gar im Juni passieren wird, weiß in der deutschen Hochschulpolitik derzeit niemand mit Bestimmtheit. Das Coronavirus, seine Verbreitung und hoffentlich Bändigung bestimmen die Abläufe. Gegen die Organisatoren eines »Notpräsenzbetriebes« mit Hilfe digitaler Techniken haben sich jüngst die Anhänger eines »Nullsemesters« formiert.

Andrea Geier, Germanistik-Professorin an der Universität Trier, hat ihre Zweifel, ob unter den gegenwärtigen Bedingungen - wozu sie »geschlossene Bibliotheken, kurze Vorbereitungszeit, fachspezifische Anforderungen« zählt - die gewohnte Präsenzlehre via Internet so ersetzt werden kann, dass am Ende auch veritable Prüfungsergebnisse stehen. Deshalb hat sie gemeinsam mit ihren Professoren-Kolleginnen Paula-Irene Villa Braslavsky (LMU München) und Ruth Mayer (Uni Hannover) einen Offenen Brief formuliert. Darin heißt es: »Wir appellieren an die Universitäten, Hochschulen, Akademien und Ministerien, alle Studiengänge zu entlasten, nicht nur solche, die auf Laborzeiten angewiesen sind. Wir meinen: Die Lehre im Sommersemester soll stattfinden, aber das Semester soll nicht formal zählen. Studierenden, die keine Studienleistungen erbringen können, dürfen keine Nachteile entstehen. Die solidarische Bewältigung der COVID-19-Pandemie hat oberste Priorität. Ein Semester kann warten.« An die 10 000 Hochschulangehörige unterzeichneten den Aufruf bisher, der inzwischen an die Kulturministerkonferenz (Politik) und die Hochschulrektorenkonferenz (Wissenschaft) übermittelt wurde.

Die HRK hat schon ihre Ablehnung signalisiert. Grundsätzlich müsse das Sommersemester 2020 unbedingt als regulärer Teil des Studiums oder der Qualifizierung anerkannt werden, erklärte HRK-Vizepräsident Prof. Ulrich Radtke. »Im Sinne der Studierenden, Lehrenden und Forschenden darf dies kein verschenktes Semester sein«, betonte Radtke. Alle Anstrengungen der Hochschulen zielten darauf ab, »den Wissenschaftsbetrieb möglichst umfassend fortzuführen«.

Dafür ist eine digitale Aufrüstung im Schnellvorlauf nötig. Unterstützungsgelder fließen. In Berlin wurde vom Senat Mitte März das 10-Millionen-Euro-Sofortprogramm »VirtualCampusBerlin« für die Hochschulen beschlossen. Die Investitionen sollen in zusätzliche IT-Infrastruktur fließen, wie neue Server, Videokonferenz-Anlagen und Softwarelizenzen. Außerdem sollen die Digitalisierungsinitiativen der Berliner Hochschulen für die Zukunft gestärkt werden. An der HTW etwa müssen vor allem neue Lizenzen für Videokonferenzen beschafft werden. »In normalen, präsenzgeprägten Zeiten haben wir bis zu 20 Prozent Anteil Online-Lehre«, erklärt Präsident Busch. »Für das Sommersemester fassen wir jede Lehrveranstaltung an - also 100 Prozent - und digitalisieren so viel, wie irgend geht«.

Auch Forscher, die auf Labors angewiesen sind, versuchen, mit der Lage zurecht zu kommen. Impfstoff- und Gesundheitsforschung laufen auf vollen Touren. Forschungsbereiche, die den Kampf gegen Covid-19 unterstützen, sind vom »Shutdown« ausgenommen. Beispielsweise das 3D-Labor am Institut für Mathematik der TU Berlin, das eine Initiative koordiniert, die mit der Technik der »Additiven Fertigung« medizinische Ersatzteile »drucken« will. Hintergrund ist nicht nur der Mangel an Atemschutzmasken, Beatmungsgeräten und sterilen Handschuhen für Krankenhäuser, sondern auch der Bedarf an Ersatzteilen für Medizinprodukte; wie schwer zu beschaffende Ventile für Beatmungsgeräte, die plötzlich in großer Zahl benötigt werden. Nach einem Hilferuf aus der EU-Kommission an die 3D-Experten wurde spontan in Zusammenarbeit mit dem Verband 3DDruck e.V. die Berliner Gruppe gebildet, die jetzt ein regionales Produktionsnetzwerk knüpft.

3D-Druck für Corona-Kliniken - auch diese Forschungsnothilfe hatte vor zwei Monaten noch niemand auf dem Zettel. In der Wissenschaft läuft derzeit vieles anders als früher. Eigentlich das meiste.

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