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Radikale Kompromisse
Thomas Piketty berührt die Folgen von Ungleichheit – nicht die Ursachen.
Mit seinem neuen, 1300 Seiten starken Buch »Kapital und Ideologie« liefert der französische Ökonom Thomas Piketty ein weiteres beeindruckendes Werk. Seine Analysen zeugen von bemerkenswerter empirischer Tiefe und bringen erstmals seine Qualitäten als Soziologe ans Licht – was Rezensenten wie Harald Loch im »nd« bereits gewürdigt haben. Bei seiner Gegenwartsanalyse scheint er allerdings vor sich selbst zurückzuschrecken: Pikettys Lösungsvorschläge zielen nicht darauf ab, Ungleichheit in gesellschaftlichen Produktionsprozessen zu beseitigen, sondern sollen deren Schäden lediglich im Nachgang begrenzen.
»Kapital und Ideologie« kann als Erweiterung und Präzisierung seines Weltbestsellers »Das Kapital im 21. Jahrhundert« (2013) gelesen werden. Einerseits vergrößert Piketty seinen geografischen und historischen Fokus; andererseits bezieht er politisch Stellung, wagt sich von der materiellen auf die ideelle Ebene vor. Und das in einer Radikalität, die der Popularität des »Rockstars der Ökonomen« (Financial Times) eigentlich zuwiderlaufen sollte. Eigentlich.
Pikettys Kernthese lässt sich auf den einen Satz herunterbrechen: »Die soziale Ungleichheit ist weder ein technologisches noch ein ökonomisches Phänomen, sondern ein politisches und ideologisches.« Jede herrschende Klasse brauche eine Erzählung, eine Legitimation, um bestehende Ungleichheiten zu rechtfertigen, »jede Gesellschaft muss ihren Ungleichheiten einen Sinn geben«. Letztlich sei aber keine dieser Ungleichheiten alternativlos oder resultiere aus tieferliegenden ökonomischen Gesetzen, sondern sei Ergebnis politischer Entscheidungen. Piketty, schreibt Paul Krugman in der »New York Times«, »stellt Marx auf den Kopf«: Gesellschaftliche Entwicklungen ließen sich nicht durch die unpersönliche Herrschaft der Warenproduktion, sondern als soziales Phänomen erklären.
Konkrete Vorschläge ...
Seine Kernthese mag all jene verwundern, die »Das Kapital im 21. Jahrhundert« kennen. Dort exerziert Piketty – ebenfalls mittels beeindruckend umfangreichen Datenmaterials – auf 800 Seiten vor, dass sich, historisch betrachtet, ökonomische Ungleichheiten auf eine Formel bringen lassen: »r>g«, was bedeuten soll: Die Kapitalrendite ist immer größer als das Wirtschaftswachstum. Oder anders: Der Kapitalismus tendiert intrinsisch zur Ungleichheit. Ohne politische Eingriffe werde sich daher Vermögen immer in den Händen einiger weniger konzentrieren, was im schlimmsten Fall zu sozialen Auseinandersetzungen bis hin zum Krieg führe.
Anders als im Vorgängerbuch belegt Piketty die zahlreichen »Ungleichheits-Regime« nicht nur empirisch, sondern prangert diese moralisch an. Da der Kapitalismus nicht nur seit seinem Bestehen am eigenen Wohlstandsversprechen scheitere, sondern spätestens seit der »Reagan-Revolution« der 1980er eine Bedrohung für den sozialen Frieden darstelle, plädiert Piketty für einen »partizipativen Sozialismus«.
Konkret fordert der Ökonom eine stark progressive Besteuerung von Besitz, Einkommen und Erbe (mit einem Spitzensteuersatz von 90 Prozent für Milliardäre), eine Demokratisierung betrieblicher Mitbestimmung und eine Art »Grunderbe« von 120 000 Euro, das jede Bürgerin und jeder Bürger ab dem 25. Lebensjahr ausbezahlt bekommen soll. Letzteres können junge Erwachsene beispielsweise zum Eigentumserwerb, zum Kauf von Unternehmensanteilen oder zur Unternehmensgründung verwenden. Junge Menschen, so Piketty bei einer Pressekonferenz in Wien, kommen so in eine bessere Verhandlungsposition; dann, wenn sie mit niedrigen Löhnen, schlechten Arbeitsbedingungen und horrenden Mietpreisen konfrontiert sind.
Die Normalität ist die Krise
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In der modernen Industriegesellschaft, schrieb (der leider viel zu wenig beachtete) Herbert Marcuse bereits 1964, »verschmelzen Kultur, Politik und Wirtschaft zu einem allgegenwärtigen System, das alle Alternativen in sich aufnimmt oder abstößt«. In einer solchen »Gesellschaft ohne Opposition«, so Marcuse, braucht es keine Ideologie mehr, denn die Ideologie ist eins mit sich selbst, sie lässt sich nur noch an ihren eigenen Maßstäben messen. Selbst die vermeintlich radikalste Opposition formuliere ihre Kritik somit in der Sprache der Herrschenden, die sie sogleich absorbiere.
Auch Piketty formuliert seine Kritik in der Sprache der von ihm Kritisierten – und tritt notgedrungen seltsam zurückhaltend auf, wenn es um essenzielle Fragen des Zusammenlebens geht. Das Sondereigentum an Produktionsmitteln, das nur ein paar Privilegierten vorenthalten ist, entlarvt Piketty als ideologisches Konstrukt, das ob seiner ideologisch-institutionellen Einbettung in sämtlichen gesellschaftlichen Sphären als natürlich erscheint. Hierin macht Piketty die causa prima struktureller Ungleichheit aus – will diese aber unberührt lassen und beschränkt sich darauf, deren negative Folgen nachträglich zu kompensieren, auch wenn er dabei weit über jene kosmetischen Eingriffe hinausgeht, wie sie in der europäischen Sozialdemokratie seit nunmehr vier Jahrzehnten Usus sind.
Piketty hört dort auf, radikal zu sein, wo er aufhört, eine eigene Sprache zu finden, die jene des gegenwärtigen »Hyperkapitalismus« transzendieren könnte. Bei ihm geht es nicht darum, dass die materielle Reproduktion der Gesellschaft auf einer – im doppelten Sinne – unbegreiflichen Ungerechtigkeit fußt und diese beständig reproduziert, sondern einzig darum, deren Output gerechter zu verteilen.
Da Piketty Ungleichheit primär als ein ideologisches Phänomen begreift, muss es für ihn folglich die Ideologie sein, die es zu reformieren gilt. Diese fasst er jedoch lediglich als institutionelle Infrastruktur, in Gestalt von Steuersätzen, Gesetzen und nicht zuletzt in Form der »Ideologie des Eigentums«. Folglich beschränkt sich sein Blick auf genau diese Stellschrauben: die Besteuerung von großen Vermögen, mehr Mitbestimmung in Betrieben, eine Startfinanzierung für junge Erwachsene.
... innerhalb des Gegebenen
Somit sind es dann doch die Koordinaten des Gegebenen, an denen sich Piketty orientiert, was seiner vermeintlichen Radikalität den Stachel zieht. Indem er auf dem mystifizierten Privileg des Sondereigentums beharrt und ökonomisches Wachstum als Wohlstandsgarant Nummer eins betrachtet – und gar der deutschen »sozialen Marktwirtschaft« Vorbildcharakter nachsagt –, münden Pikettys Überlegungen letztlich im ideologischen Raster einer »Gesellschaft ohne Opposition«, wenn auch an deren Rändern. Die großen Fragen kann Piketty damit nicht beantworten. Die ökologische Krise als Folge jahrhundertelanger Wachstumslogik und Ressourcenextraktivismus bekommt er damit genauso wenig in den Blick, wie die Unterdrückungsmechanismen vergeschlechtlichter Arbeitsteilung.
So radikal – und an vielen Stellen pointiert – Pikettys Ideen eines »partizipatorischen Sozialismus« sein mögen: Am Ende schreckt er vor seiner eigenen Analyse zurück. Er weigert sich konsequent, sich selbst zu Ende zu denken, mit sich selbst über sich selbst hinaus zu denken. In mühevoller Kleinarbeit gräbt sich der Ungleichheitsforscher zum »Unmöglichkeits-Punkt der Gleichheit« (Alain Badiou) vor – um dann – man möchte fast sagen: leider – bloß deren Effekte zu bearbeiten. Bevor es ans Eingemachte geht, streift sich Piketty die Samthandschuhe über.
Thomas Piketty: Kapital und Ideologie. A. d. Franz. v. André Hansen, Enrico Heinemann, Stefan Lorenzer, Ursel Schäfer und Nastasja S. Dresler. C. H.Beck, 1312 S., geb., 39,95 €.
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