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Brav und verboten
In der Coronakrise verändern sich auch Protestformen.
Während sich die EU weiterhin gegen Geflüchtete abschottet, scheint die Kreativität von Aktivist*innen keine Grenzen zu kennen: Unter dem Motto »Leave no one behind« (Lasst niemanden zurück) veranstalten Linke, die sonst lieber Fahrrad fahren, Autokorsos, um die Evakuierung der Bewohner aus griechischen Flüchtlingslagern zu fordern. Diese Botschaft brüllen Antifa-Kerle nicht nur durchs Megafon, sondern malen sie auch liebevoll mit Kreide auf den Asphalt. Zu Hausbesetzungen wie in Berlin, mit denen man sich Schutzräume für Obdachlose aneignen will, kommen nicht so viele Menschen wie möglich, sondern nur noch zwei, die das Ganze live ins Netz übertragen. Und Aktivist*innen, die eigentlich Wert darauf legen, dass niemand ihre Adresse erfährt, kritisieren den Mietenwahnsinn per Banner von ihren eigenen Balkonen. Linke quer durchs Land wirken derzeit außergewöhnlich flexibel und bereit, gewohnte Handlungsmuster gegen neue einzutauschen.
Als Grund für diese Dynamik sieht Protestforscherin Maria del Carmen Mayer von der Universität Bielefeld nicht allein die staatlichen Verordnungen, die die Versammlungsfreiheit und andere Grundrechte einschränken. »Es gibt einfach eine reale Bedrohung durch die Pandemie. Die lässt sich nicht wegdiskutieren, und dafür sollten gerade progressive soziale Bewegungen ein ausgeprägtes Bewusstsein haben«, betont sie. Die Forscherin unterscheidet aktuell zwei Gruppen von Protesten: jene, die wegen der Coronakrise stattfinden, und solche, die trotz der Krise stattfinden.
Wegen Corona wurde etwa der Hashtag IchBinKeinVirus ins Leben gerufen. Die Kampagne wurde nötig, weil rassistische Schuldzuweisungen für die Ausbreitung des Coronavirus um sich griffen. Ein anderes Beispiel ist eine Demonstration in Hannover »gegen das totale Versammlungsverbot unter dem Deckmantel der Epidemiebekämpfung«, die ironischerweise untersagt wurde.
Auch das Bündnis Seebrücke, das den Umgang der EU mit Geflüchteten kritisiert, will gerade jetzt nicht auf Proteste verzichten. Bei der Form setzt es auf Spaziergänge und Menschenketten mit großem Abstand zueinander. Manchem radikalen Linken ist das zu brav. Doch auch die bravsten Dinge können zurzeit zivilen Ungehorsam darstellen und verboten sein. Christin Stühlen vom Seebrücken-Bündnis in Frankfurt am Main hält die gewählten Mittel für richtig. »Was besser hätte ausgearbeitet werden können, war unser Exit-Szenario«, bilanziert sie die Aktion vom Sonntag. Denn als die Polizei einschritt, um ihren Protest zu unterbinden, hätten einige Teilnehmende sich eine Ansage der Veranstalter*innen gewünscht, wie man sich verhalten solle. Mit zwei Metern Abstand zueinander ist es schwieriger, sich abzusprechen, als bei klassischen Demonstrationen.
»Während sich die Leute bei Menschenketten normalerweise die Hände reichen, sehen wir bei der Seebrücke derzeit eher eine Simulation dieser Aktionsform«, bemerkt Mayer, die eine »Veränderung, Verdichtung und Neukombination von Protestformen« konstatiert. Viele der Aktionsrepertoires habe es an sich auch in der Vergangenheit gegeben, erinnert sie. Ein Autokorso forderte etwa 2018 in Berlin die Freilassung des in der Türkei inhaftierten »Welt«-Journalisten Deniz Yücel. Auch Hashtag-Kampagnen im Netz werden etwa von feministischen Bewegungen wie MeToo schon seit Langem genutzt.
In die zweite Gruppe von Protesten, die trotz Corona weitergehen sollen, fallen etwa die der Klimabewegung. »Fridays For Future« können nicht mehr so streiken wie bisher, da auch außerhalb der Ferienzeit alle Schulen geschlossen sind. Sie organisieren sich deshalb online unter dem Hashtag NetzstreikFuersKlima. Eine »Herausforderung für Bewegungen« werde laut Mayer in nächster Zeit sein, »ihre Politik im analogen und digitalen Raum zu synchronisieren«.
In der Verlagerung ins Digitale sieht Stühlen von der Seebrücke auch eine Chance: »Ich könnte mir vorstellen, dass Corona einigen Gruppen hilft, ihre Kommunikationsstrukturen auszubauen und so Protest besser und schneller zu organisieren«, sagt sie - und fügt hinzu: »Auch wenn das furchtbar neoliberal klingt!« Apropos neoliberal: Diese Woche haben mit den hessischen Eismachern auch neue Akteure - für mehr Gleichheit - protestiert, denn nur in ihrem Bundesland ist Eisdielen der Betrieb »komplett untersagt«.
Doch unabhängig davon, wer welche Form wählt: Protest ist appellativ, er richtet sich oft mit Bitten an die Regierung. Die katastrophale Situation von Geflüchteten in Moria hat sich trotz der nicht abreißenden und kreativen Proteste bislang nicht verbessert. Und weil der Staat in der Coronakrise vielerorts versagt, wählen Menschen vermehrt Mittel, die über Protest hinausgehen: In Italien und Spanien sind das Arbeitsniederlegungen, in Mailand beispielsweise direkte Aktionen wie Solidaritätsbrigaden, und in den USA werden Mietstreiks organisiert. Ob solche Aktionsformen sich irgendwann auch in Deutschland ausbreiten, bleibt abzuwarten. Die aktuelle Repression der Polizei, selbst gegenüber braven Formen des Protests, könnte durchaus dazu führen.
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