Waren herstellen – nicht kaufen

Vor 40 Jahren kamen die ersten vietnamesischen Vertragsarbeiter in die DDR.

  • Marina Mai
  • Lesedauer: 6 Min.

Im Alter von 18 Jahren kam V. Le 1988 aus Vietnam in die DDR, um in der VEB Nähmaschinenteile Dresden zu arbeiten. Der Mann, der seinen vollen Namen nicht in der Zeitung lesen will, betreibt heute einen Imbiss in der Nähe eines Berliner S-Bahnhofes. Er war einer von 60 000 Vietnamesinnen und Vietnamesen, die 1989 in der DDR lebten. Grundlage dafür war ein bilateraler Vertrag zwischen der DDR und Vietnam, geschlossen vor 40 Jahren: am 11. April 1980.

Ähnlich wie für die Gastarbeiter*innen in der alten Bundesrepublik war der Aufenthalt der »ausländischen Werktätigen« in der DDR als zeitlich befristet vorgesehen. Anders als in der BRD war ihr Einsatz jedoch komplett staatlich organisiert. Es gab keine individuellen Absprachen der Arbeiter*innen mit den Unternehmen. In der Regel sollten die vietnamesischen Arbeitskräfte vier Jahre bleiben; eine Integration in die DDR-Gesellschaft war nicht geplant.

Die Vertragsarbeiter*innen verrichteten meist einfache und unbeliebte Anlerntätigkeiten, sie konnten ihren Wohnort nicht frei wählen, sondern lebten in Heimen auf pro Person lediglich sechs Quadratmetern. Le hatte Glück, dass er mit »nur« 17 anderen Männern in eine Dresdner Villa ziehen konnte statt in eine Massenunterkunft. Wer aus Vietnam in die DDR kommen wollte, musste sich auf »gesundheitliche Eignung« untersuchen lassen. Verstieß man gegen die Arbeitsdisziplin oder wurde man ernsthaft krank, selbst nach einem Arbeitsunfall, musste man laut Vertrag nach Vietnam zurückkehren. Schwangere Vietnamesinnen hatten die Wahl zwischen einem Schwangerschaftsabbruch und der Heimreise.

Arbeiter für die DDR

Dennoch kamen die Vertragsarbeiter*innen freiwillig. Le sagt dem »nd«: »In Vietnam herrschte Armut. Da war die Aussicht auf ein Leben in Europa für mich verlockend«. Verlockender selbst als ein Studium, das der frischgebackene Abiturient eigentlich beginnen wollte. »Aber es gab in Vietnam viele Leute, die trotz Studiums arbeitslos waren.«

Im ersten Jahr nach Vertragsabschluss kamen lediglich 1500 Vietnames*innen in die DDR, in den beiden Folgejahren je gut 4000. Damals lebten in der DDR bereits 50 000 Vertragsarbeiter*innen, überwiegend aus Polen, Ungarn, Algerien und seit 1979 auch aus Mosambik. Mit Ausnahme von Mosambik wurden die Verträge jedoch in den 80er Jahren nicht verlängert.

1984 stockte auch der Zuzug von Menschen aus Vietnam für drei Jahre. Grund waren Differenzen der Regierungen von beider Länder zu der Frage, wie viele Waren die Beschäftigten nach Vietnam schicken durften. Denn die DDR-Währung war nicht konvertierbar. Wollten die Vietnames*innen ihre Familien in der Heimat finanziell unterstützen, mussten sie in der DDR Waren kaufen und diese nach Vietnam schicken. Einige wenige Güter waren besonders beliebt und wurden damit in der DDR zu Mangelware: Fahrräder, Nähmaschinen, Fotopapier etwa. Für die DDR-Regierung war das ein Problem. Die vietnamesische Regierung hingegen weigerte sich, die Ausfuhr im Vertrag mit der DDR zu verbieten, denn die Waren wurden in Vietnam dringend gebraucht.

Geld für Vietnam

Der Konflikt zeigt die tiefe Kluft zwischen den Ansprüchen der DDR an die Vertragsarbeiter*innen und der Realität. Nach dem Willen der DDR sollten jene die personellen Engpässe in der Produktion stopfen, Arbeitsplätze einnehmen, für die sich sonst niemand fand. Der Bevölkerung der DDR wurde das als sozialistische Bruderhilfe verkauft, die Vertragsarbeit sei mit einer Ausbildung verbunden, die den Arbeiter*innen zugute käme. Tatsächlich sah der Vertrag von 1980 einen Sprachkurs von einem bis drei Monaten sowie eine berufliche Ausbildung vor. Das erwies sich aber nicht als praxistauglich und wurde oft nicht realisiert: Weil in der DDR vor allem un- und angelernte Arbeitskräfte fehlten, machte es aus wirtschaftlicher Sicht keinen Sinn, die Neuankömmlinge auszubilden. Auch die Vertragsarbeiter*innen selbst und ihre Heimatregierung hatten in der Regel kein Interesse an einer Ausbildung. Denn die meisten der betreffenden Industriezweige gab es in Vietnam überhaupt nicht.

Allerdings profitierte der vietnamesische Staat finanziell von der Entsendung von Arbeitskräften. Denn die Einsatzbetriebe überwiesen zwölf Prozent des Bruttoeinkommens der Arbeitsmigrant*innen als »Hilfe zum Wiederaufbau des Landes« an die vietnamesische Staatskasse. Auch die Rentenversicherungsbeiträge und das Kindergeld für die zurückgelassenen Kinder ging nicht an die Arbeitenden selbst, sondern an den vietnamesischen Staat. Nguyen Van Huong aus dem Büro der Berliner Integrationsbeauftragten rechnete 1999 aus, dass auf diese Weise insgesamt rund 200 Millionen DDR-Mark an Vietnam flossen.

Fahrräder für die Familie

Für die Vertragsarbeiter*innen selbst bestand der Sinn ihrer Tätigkeit in der DDR vor allem darin, mit dem Verdienst ihre Familien zu unterstützen. Der Historiker Mike Dennis fand ein Dokument einer Brandschutzkontrolle im Wohnheim des VEB Kindermoden Sangerhausen, das zeigt, mit welcher Hartnäckigkeit sie dieses Ziel verfolgten. Laut Protokoll wurden in den Kellern 36 Mopeds, 112 Fahrräder, Reifen für 230 Fahrräder und für 150 Mopeds sowie große Mengen an Waschpulver, Seife und Kerzen gefunden.

Das fehlende Interesse an einer Ausbildung aller Beteiligten führte dazu, dass dieses Ziel im zweiten Regierungsabkommen von 1987 entfiel. Der Sprachkurs wurde auf vier Wochen gekürzt. Le erinnert sich: »Wir haben vor allem Höflichkeitsregeln gelernt, beispielsweise, dass man in der Straßenbahn für ältere Menschen aufsteht.« Ab 1987 erhöhte sich die Zahl neu ankommender Vertragsarbeiter*innen rapide. Es kamen 20 000 Neuankömmlinge, 1988 noch einmal 31 000. Hintergrund war, dass die DDR aus demografischen Gründen, aber auch aufgrund der Auswanderung von DDR-Bürger*innen, dringend Arbeitskräfte brauchte und diese aus den osteuropäischen RGW-Staaten (Rat für gegensätzliche Wirtschaftshilfe) nicht mehr kamen. Anfang 1987 beschloss zudem das Politbüro, für die »zusätzliche Produktion von 3,5 Millionen Kinderschuhen, 2 Millionen Kinderanoraks, 500 000 Kinderhosen und 200 000 Kinderjacken« die Maschinen in der Leichtindustrie mehrschichtig auszulasten. Dazu waren, so das Politbüro, 17 570 Vietnames*innen »der Leichtindustrie der DDR zuzuführen«.

Nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik 1990 sollten DDR-Vertragsarbeiter*innen lediglich ein Bleiberecht für die ursprünglich mit der DDR geschlossene Vertragszeit erhalten. Für den 1988 eingereisten Le bedeutete das, er sollte 1992 Deutschland verlassen. »Es begann eine sehr schlimme Zeit«, erinnert er sich. Nicht nur, dass Skinheads die Villa in Dresden angriffen. Le, der eine Berliner Vietnamesin heiratete und zu ihr ins Wohnheim zog, bekam immer nur eine Duldung für wenige Tage, »manchmal für drei Wochen, manchmal für neun Tage. Wir konnten unser Leben nicht planen, fanden keine Arbeit.« Nur 16 000 der einst 60 000 vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen blieb in Deutschland. Für Le endete die Zeit der Unsicherheit 1995, als er und seine Frau eine Aufenthaltsbefugnis erhielten, die zwei Jahre später in eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis umgewandelt wurde. Damals hatten sich die Innenminister der Bundesländer nach jahrelangen Debatten entschlossen, ehemaligen DDR-Vertragsarbeiter*innen ein Aufenthaltsrecht zuzusprechen. Erst jetzt konnten solche Vietnames*innen, die in Vietnam ihre Familien zurückgelassen hatten, diese nach zehn Jahren Trennung nachholen.

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