Hermlins Tochter
Andrèe Leusink tot
Das ist Verrat an den Ermordeten«, schrieb sie in »neues deutschland« am 12. Dezember vergangenen Jahres. Ihre Kritik richtete sich gegen die Entscheidung eines Berliner Finanzamtes zum Entzug der Gemeinnützigkeit der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten (VVN-BdA), dies vor allem in einer Zeit des Erstarkens rechtsextremer Kräfte in Deutschland. »Mir scheint die Vergangenheit … wieder schmerzhaft gegenwärtig. Ich schlafe schlecht, weine manche Nacht.«
Am 9. April ist Andrèe Thèrèse Leusink, geborene Leder, verstorben. Sie war die älteste Tochter des Schriftstellers Stephan Hermlin und einzige Tochter von Juliette Leder. Sie wurde am 14. Mai 1938 in Paris geboren, wohin ihre Eltern, als deutsche jüdische Linke, vor den Nazis hatten emigrieren müssen. Nach der Okkupation Frankreichs durch die faschistische Wehrmacht zwei Jahre darauf, flüchtete die Familie mit dem letzten Zug in den noch unbesetzten Süden. Während ihr Vater in der französischen Armee diente, verstarb die Mutter infolge einer Abtreibung. Sie war von einem Franzosen schwanger geworden, der sie gezwungen hatte, ihm zu Willen zu sein, bevor er ihr und der kleinen Tochter eine Unterkunft besorgen wollte.
Dank solidarischer Hilfe von Genossen konnte Andrèe in einem Kinderheim versteckt werden. Als dort eine Razzia der Büttel des Kollaborationsregimes in Vichy drohte, wurde sie mit Hilfe der Résistance 1943 in die Schweiz gebracht, wo sie zunächst mit ihrem Vater in einem Internierungslager lebte. Danach wurde sie in eine Pflegefamilie in Zürich gegeben, die das jüdische Mädchen schamlos ausbeutete und für sich arbeiten ließ. 1948 holte Stephan Hermlin seine Tochter mit Hilfe seiner Mutter, ihrer Großmutter Lola, in die sowjetische Besatzungszone.
In Berlin-Pankow erlernte sie erst, nunmehr in der 4. Klasse, ihre eigentliche Muttersprache. 1957 absolvierte sie das Abitur, studierte Geschichte, Sport, Psychologie und Philosophie und wurde eine engagierte Lehrerin. Neben dem Beruf zog sie vier Kinder groß. Andrèe Leusink war eine überzeugte, aber auch kritische DDR-Bürgerin. Gegen sie wurden zwei Parteiverfahren geführt. Zwei Jahre langt durfte sie nicht mehr Geschichte unterrichten, weil sie angeblich keinen »Klassenstandpunkt« vertrat. Bis an ihr Lebensende wurde sie von ehemaligen Schülern aufgesucht, die sie als gütige und kluge Lehrerin in Erinnerung hatten. Als Mitglied der Linken und der VVN-BdA blieb sie bis zuletzt ihren Idealen treu. Wolfgang Herzberg
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