Die Corona-Paradoxie

Kampfstern Corona (Teil 12): Was Hanno Buddenbrook uns lehren kann

  • Wolfgang Schmidbauer
  • Lesedauer: 5 Min.

In einem berühmten Kapitel seines Romans »Buddenbrooks« beschreibt Thomas Mann die Typhus-Erkrankung des einzigen Sohnes der Lübecker Patrizierfamilie. Der noch nicht volljährige Hanno wird die minutiös geschilderte Infektion nicht überstehen, deren klinische Dramatik der Dichter zum guten Teil aus Meyers Konversationslexikon von 1889 abgeschrieben und ausgeschmückt hat. Heutzutage ist Typhus eine Seuche der sogenannten Entwicklungsländer; der Erreger ist nicht nur bekannt, sondern es gibt auch Medikamente gegen ihn. Als Thomas Mann 1901 die »Buddenbrooks« veröffentlichte, waren die Menschen der Krankheit aber ähnlich ausgeliefert wie wir gegenwärtig der Lungenkrankheit Covid-19.

In der Darstellung von Hannos Erkrankung entwickelt Mann zum ersten Mal jenen psychosomatischen Scharfblick, der sein späteres Werk charakterisiert, vom »Tod in Venedig« über den »Zauberberg« bis zu »Doktor Faustus«. Hanno stirbt, weil er die Zuversicht aufgegeben hat, einen Platz in dem geschäftigen, bunten und ein wenig brutalen Leben zu finden, das auf ihn wartet.

Kampfstern Corona
Der Kampfstern Corona strahlt so hell, dass es weh tut. Besiegt uns das Virus oder macht es „nur“ unseren Alltag kaputt? Oder wird nun alles ganz anders? Beobachtungen und Überlegungen in loser Folge.

Für Mann war es mit dem Typhus folgendermaßen bestellt: »In die fernen Fieberträume, in die glühende Verlorenheit des Kranken wird das Leben hineinrufen mit unverkennbarer, ermunternder Stimme. Hart und frisch wird diese Stimme den Geist auf dem fremden, heißen Wege erreichen, auf dem er vorwärts wandelt und der in den Schatten, die Kühle, den Frieden führt. Aufhorchend wird der Mensch diese helle, muntere, ein wenig höhnische Mahnung zur Umkehr und Rückkehr vernehmen, die aus jener Gegend zu ihm dringt, die er so weit zurückgelassen und schon vergessen hatte. Wallt es dann auf in ihm, wie ein Gefühl der feigen Pflichtversäumnis, der Scham, der erneuten Energie, des Mutes und der Freude, der Liebe und Zugehörigkeit zu dem spöttischen, bunten und brutalen Getriebe, das er im Rücken gelassen: Wie weit er auch auf dem fremden, heißen Pfade fortgeirrt sein mag, er wird umkehren und leben. Aber zuckt er zusammen vor Furcht und Abneigung bei der Stimme des Lebens, die er vernimmt, bewirkt diese Erinnerung, dieser lustige, herausfordernde Laut, dass er den Kopf schüttelt und in Abwehr die Hand hinter sich streckt und sich vorwärts flüchtet auf dem Wege, der sich ihm zum Entrinnen eröffnet hat ... nein, es ist klar, dann wird er sterben.«

Um die Pandemie zu zähmen, haben viele Staaten ein Klima von Einschränkung, Trauer und Verlust geschaffen. Die Folgen sind extrem ungerecht. Schon jetzt zeichnet sich ein Riss quer durch die Gesellschaften ab. Auf der einen Seite finden sich die, die der Insolvenz, in den ärmeren Teilen der Welt dem blanken Hunger ins Auge sehen. Auf der anderen eine Gruppe von Gesicherten, deren Leben eher belästigt als bedroht ist, die sich aber, wenn sie zur Empathie fähig sind, dem Leid der anderen Seite nicht entziehen können.

In viel blasseren Konturen kommt eine zweite, nicht weniger machtvolle Diskrepanz auf uns zu: zwischen der Gruppe von Menschen, die Covid-19 überlebt haben und immun sind, und jener der gegenwärtig noch viel größeren Gruppe von Menschen, die den Infekt noch vor sich haben oder aber, wie die Risikogruppen, ihn auf jeden Fall vermeiden sollten.

Thomas Mann hat den Widerspruch zwischen der »robusten« bürgerlichen Härte und Entscheidungsfreude und der sensiblen, verletzlichen und komplizierten Lebensform des Künstlers pointiert. Dieser wird gegenwärtig anders und doch merkwürdig vertraut formuliert. Was unter politischen Aspekten sinnvoll, ja unausweichlich ist, entpuppt sich für die individuelle Psyche als schwer zu tragende Last. Wer die Bürger motivieren will, Auflagen und Einschränkungen zu beachten, lebt in einer anderen geistigen Welt als der Arzt oder Therapeut, der sich Gedanken über positive und negative seelische Einflüsse auf Abwehr- und Heilungsprozesse macht.

Thomas Mann hat einen Gegensatz zugespitzt, der die Heilkunde an vielen Stellen prägt: zwischen dem Nocebo und dem Placebo. In jedem Kranken wirken Bilder, die seine Gesundung behindern oder fördern. Der Glaube an ein Heilmittel kann die mächtigste Medizin sein - umgekehrt aber auch der Zweifel an den eigenen Kräften, die Verzweiflung angesichts einer finsteren Zukunft das mächtigste Gift. Das führt uns zum aktuellen Corona-Paradox: Berichte und Bilder von zahlreichen Todesfällen und überfüllten Kliniken sorgen dafür, eine Gefahr ernst zu nehmen, die kleinzureden verantwortungslos wäre. Aber gleichzeitig belastet das mit der Pandemie verbundene Trommelfeuer an Informationen die Zuversicht der Menschen. Weil die Gefahr neu ist, muss sie auch viel schlimmer sein als andere Gefahren.

Wir kennen dieses Dilemma schon lange. Der Patient geht in die Apotheke, kauft das vom Arzt verschriebene Medikament, liest den Beipackzettel - und legt es in die Schublade. Er hat die Zuversicht verloren, die Pillen zu schlucken. Je mehr wir wissen, umso mehr muss der mündige Bürger aufgeklärt werden. Es bleibt seiner Mündigkeit überlassen, ob er tut, was nicht wenige Mediziner raten: die zu seiner Aufklärung gedachten Zettel lieber nicht zu lesen, sondern seinem Arzt zu vertrauen. Psychologisch günstiger ist das allemal, als nach jeder Einnahme des Mittels in sich hineinzuhorchen, ob sich eine der beschriebenen unerwünschten Nebenwirkungen einstellt.

Optimismus und ein freudiger Blick auf die Zukunft tun nicht nur der Psyche gut, sie tragen auch ganz wesentlich zur körperlichen Gesundheit bei. Es wäre sehr zu wünschen, dass möglichst viel von dem Humor und der Zuversicht, mit denen sich die im Shutdown Isolierten gegenseitig Mut zusprechen, auch die Infizierten erreicht, die in fiebriger Isolation auf die Stimme des Lebens warten.

Wolfgang Schmidbauer arbeitet als Psychoanalytiker. Im Februar erschien von ihm »Kaltes Denken - warmes Denken. Über den Gegensatz von Macht und Empathie« im Kursbuch-Verlag.

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