»Wir sind doch keine Versuchskaninchen«

Schüler wie Lehrer kritisieren eine überstürzte Rückkehr in den Schulalltag

Die Aufrufe zum Schulboykott, die seit einigen Tagen im Internet kursieren, sind natürlich frech. Seit Wochen haben die Schulen geschlossen, damit sich das Coronavirus dort nicht ausbreiten kann. Jetzt gibt es eine vorsichtige Öffnung für die Abschlussklassen - jedes Bundesland hat dafür einen eigenen Plan: In Bayern kehren lediglich 14 Prozent der Schüler*innen in der kommenden Woche zum Unterricht zurück. In Hessen und Rheinland-Pfalz wurden die Abi-Klausuren schon geschrieben. In Nordrhein-Westfalen gibt es in dieser Woche freiwillige Angebote, die auf die anstehenden Prüfungen vorbereiten sollen. Ausgerechnet jetzt folgt der Aufruf von Schüler*innen, dabei nicht mitzumachen. Begonnen hat der Protest in Nordrhein-Westfalen, mittlerweile erstreckt er sich aber über nahezu alle Bundesländer.

Seit dem Wochenende formulierten Tausende ihr Unverständnis im Internet. »Jede Fahrt mit dem Schulbus ist wie eine Party in Ischgl«, schreibt etwa ein Nutzer namens Redcat auf Twitter. Eine andere, die sich Parocatha nennt: »Polizei machte hier gerade eine Durchsage, dass Ansammlung ab 3 Personen verboten ist. Vielleicht können die ja ab nächster Woche mal in die Schulen gehen.« In vielen Tweets klingt die Kritik an, dass bei den Corona-Verboten mit zweierlei Maß gemessen wird. Und es schwingt ein tiefes Misstrauen hinsichtlich der Kompetenz der Schulbehörden mit, einen Unterrichtsalltag zu organisieren, der das Abstandsgebot und verschärfte hygienische Standards einhält.

Auch die Landesschüler*innenvertretung in Nordrhein-Westfalen hält das Datum für den Wiedereinstieg in den Unterricht für verfrüht. Derzeit seien die Voraussetzungen für einen geregelten Schulalltag nicht gegeben, hieß es in einer Mitteilung. »Eigentlich sollte auch für Nicht-Virolog*innen klar sein, dass man nicht weniger anfällig für das Coronavirus ist, weil man in naher Zukunft das Abitur oder eine zentrale Prüfung ablegen wird.« Schulen sollten erst wieder geöffnet werden, wenn die allgemeine Kontaktsperre aufgehoben ist, so der Rat des Gremiums.

Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) zeigte sich betont leger, als er via Instagram den aufmüpfigen Schüler*innen erklärte, dass die Wiederaufnahme des Schulbetriebs eine Entscheidung aller 16 Bundesländer sei, ganz egal wie mit welchen Koalitionen sie geführt werden. Alle hätten dafür gestimmt.

Für die Schüler*innenvertretung ist dies alleine schon ein absurder Vorgang: »16 Ministerpräsident*innen sind zu gefährdet, um persönlich zusammenzukommen, Prüfungsjahrgänge mit teilweise weit über hundert Schüler*innen und verschiedenen Fachlehrer*innen können aber in sich überschneidenden Gruppen stundenlang in Klassenräumen unterrichtet werden.« Massive Zweifel haben die Schüler*innen, ob es unter den Bedingungen der Pandemie überhaupt möglich ist, faire Abschlussprüfungen abzulegen. Wie ein »Versuchskaninchen« komme er sich vor, äußerte sich ein 19-Jähriger gegenüber der »Neuen Westfälischen«, der in Kürze sein Fachabitur ablegen soll.

Unterstützung bekommen die Prüflinge von den Schulleiter*innen in Nordrhein-Westfalen, die sich in einem Offenen Brief gegen einen schrittweisen Unterrichtsbeginn ausgesprochen haben. »Wir haben schon die ersten Schülerinnen und Schüler in der Schule, bevor Hygienepläne auch nur im Ansatz organisiert und umgesetzt werden können«, heißt es darin. Es gebe »im Umfeld der medizinischen Institute und der Politik« durchaus Stimmen, die infrage stellen, ob ein regulärer Schulbetrieb in absehbarer Zeit überhaupt wieder organisiert werden könne.

Aber ob nun tatsächlich Schüler*innen den Unterricht boykottieren, bleibt abzuwarten. Immerhin hat sich die Bewegung Fridays for Future dem Protest angeschlossen und dazu aufgerufen, am Freitag zu Hause zu bleiben, um dort online für mehr Klimaschutz zu protestieren.

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