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Mit rassistischem Kern
Verschwörungstheorien sind in der Coronakrise wieder en vogue. Daniel Schwerd meint: Das ist gefährlich.
Die Coronakrise befeuert den Markt der Verschwörungstheorien. Während sich ein Teil daran abarbeitet, die Existenz des Virus zu leugnen oder Corona im Reich harmloser Erkältungskrankheiten zu verorten, glaubt ein anderer Teil, die Urheber der Krankheit gefunden zu haben: wahlweise die USA, Russland, China oder Israel. Warum haben Menschen so eine Lust an Verschwörungen?
Der Mensch ist, gemessen an seiner Verbreitung, das erfolgreichste Lebewesen auf diesem Planeten. Sein Erfolg basiert auf seiner Anpassungsfähigkeit, der Neugier und der Geschwindigkeit seines Lernens. Er ist gut im Erkennen von Mustern, daraus Schlüsse zu ziehen und Erfahrungen für die Zukunft abzuleiten. Das ist seine Überlebensstrategie: blitzschnell Muster zu erkennen und zu verarbeiten. Den Tiger im Dschungel auszumachen, das gefleckte Tier im Blättermeer, davon hängt buchstäblich sein Überleben ab.
Wir werden als nackte, dumme Affen geboren. Innerhalb unserer Lebensspanne lernen wir in Jahrtausenden gesammeltes Wissen und gewachsene Kultur durch Beobachtung der Umwelt, durch permanentes Zusammensetzen und In-Zusammenhang-Setzen von Informationen. Eine einfachere, aber stärkere Erklärung ziehen wir dabei einer vagen, komplizierten oder schwerer nachvollziehbaren vor. Und das ist zugleich auch eine Schwäche: Der Mensch bemüht sich, Muster im Chaos zu erkennen, wo keines ist. Er versucht, Informationen in Zusammenhang zu setzen, die keinen erkennbaren Zusammenhang haben. Er ist auf der Suche nach Gründen, wo er keine finden kann. So entstehen Mythen.
Aus unerklärlichen Umweltphänomenen sind Götter entstanden, die er dafür verantwortlich macht. Aus Katastrophen und Schicksalsschlägen werden Strafen für Fehlverhalten. »Horror vacui«, die Angst vor leeren Stellen im Kopf, die Erfahrung, dass es für manche Phänomene keine greifbare Erklärung gibt, ist für ihn nicht auszuhalten. Und so konstruiert sich der Mensch eine Erklärung: aus zufälligen Beobachtungen von gleichzeitigen Phänomenen, aus Koinzidenz baut er Kausalität.
Der Mensch hat verinnerlicht, dass alles, was geschieht, ihn unmittelbar betrifft. Und so hält er sich für den Mittelpunkt des Universums, für das Ziel allen Geschehens. Aber die Welt schert sich eigentlich nicht um ihn. Die Tatsache, dass manche Dinge einfach passieren, dass er lediglich das Pech hat, in der Mitte des Sturms zu stehen, kann er nicht glauben.
So entstehen Verschwörungstheorien: Seuchen sind kein Zufall, es muss einen Grund dafür geben. Sie wirken für den Menschen wie ein persönlicher Angriff. Wenn er sich schon nicht gegen eine unsichtbare Gefahr wehren kann, will er doch wenigstens jemanden dafür verantwortlich machen. Irgendjemand müsse doch hinter den Geschehnissen stecken und/oder davon profitieren. Zufall? Von wegen! Götter jedenfalls, das weiß der moderne Mensch heute, sind dafür nicht die Ursache: Es müssen Menschen dahinterstecken. Menschen, die im Hintergrund agieren und in den unerklärlichen Katastrophen die Fäden ziehen, aus Gewinnsucht oder aus Lust an der Zerstörung.
So nachvollziehbar das vielleicht auch sein mag, dürfen wir, kann ich das nicht so stehen lassen.
Verschwörungstheorien beinhalten ein »Wir« gegen »Die«. Ihnen ist die Ausgrenzung von Menschen, von Individuen oder Gruppen, stets eigen. Und aus Ausgrenzung erwächst Hass, aus Hass Gewalt. Verschwörungstheorien sind der Kern rassistischen Denkens: Zuschreibungen von Stereotypen, von Eigenschaften beispielsweise anhand der Herkunft, der Hautfarbe, des Glaubens. Jede Verschwörungstheorie bedient diese Muster und beinhaltet diese Gefahr.
Und der Prototyp der sinisteren Mächte hinter Seuchen und Katastrophen sind antisemitische Stereotype: Die Brunnenvergifter, die Blutsäufer, die »Weisen von Zion«. In diesem Licht schwingt in der Corona-Verschwörungstheorie, auch wenn Juden namentlich nicht genannt werden, ein antisemitisches Stereotyp mit - von Judenhassern dankbar aufgenommen. Es ist kein Zufall, dass gerade auch Israel als potenzielle Quelle des Virus genannt wird.
Daher dürfen wir auch diese Theorien nicht unwidersprochen lassen. Und das meint nicht nur die Verharmlosung einer potenziell tödlichen Infektionskrankheit und die Gefährdung von Risikogruppen, von vorerkrankten oder alten Menschen - sondern auch den rassistischen, ausgrenzenden Kern der inhärenten Schuldzuschreibung.
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