Sündenbock Muslime

Indiens Hindunationalisten hetzen in der Coronakrise gegen muslimische Tagelöhner

  • Dominik Müller
  • Lesedauer: 3 Min.

»Es ist eine schreckliche Sache, in solchen Zeiten ein Tagelöhner zu sein, aber noch schlimmer ist es, ein muslimischer Arbeiter zu sein«, sagt der 30-jährige Ershad Hossain, Arbeiter in einer Textilfabrik der indischen Metropole Mumbai gegenüber dem Magazin »The Wire«. Sein Heimatdorf liegt mehr als 2000 Kilometer entfernt im Bundesstaat Westbengalen.

Hindunationalistische Organisationen, darunter auch Abgeordnete der Regierungspartei BJP, hetzen in sozialen Medien gegen die muslimische Minderheit und reden vom »Corona-Jihad«. Muslime, würden das Virus verbreiten, um Indien zu schaden: seiner Wirtschaft, seiner Regierung, seiner hinduistischen Bevölkerungsmehrheit. Muslime würden andere bewusst anhusten, einige Imame würden dazu aufrufen.

Eine Behauptung, die auch in den Mainstreammedien aufgegriffen wird. Als Hauptquelle für die Infizierung in Indien machen sie den überwiegend muslimischen Stadtteil Nizamuddin in Delhi aus, berühmt für seine Sufi-Schreine und Kebab-Stände. Dort befindet sich auch das sechsstöckige Hauptquartier der Tablighi Jamaat Glaubensgemeinschaft. Vom 13. bis zum 15. März fand dort ein lange geplantes internationales Pilgertreffen mit 4000 Teilnehmern statt. Darunter, so wurde Anfang April bekannt, waren mehrere Infizierte.

Indische Teilnehmer hätten den Virus überall im Land verteilt, berichten indische Medien. Die Nachrichtenagentur Reuters spricht von einer regelrechten »Menschenjagd«, die auch medial inszeniert werde. Als Rechtfertigung dienen manipulierte Statistiken: Überproportional viele Tablighi Jamaat-Mitglieder werden getestet, während die Gesamtzahl der Tests in Indien sehr niedrig ist. Bezeichnenderweise wurden Mitglieder von Tablighi Jamaat und ihre Kontaktpersonen unter Quarantäne gestellt und getestet, auch wenn sie keine Symptome zeigten - andere mussten Symptome haben, um sich überhaupt für Tests zu qualifizieren. Anfang April waren es knapp 500 Infizierte, die direkt mit dem Pilgertreffen in Verbindung gebracht wurden. Laut Angaben des Innenministeriums waren im Zusammenhang mit dem Tablighi-Treffen 9000 Menschen in Quarantäne.

Offiziell hatte die indische Regierung bereits am 10. März fünfzig Infizierte registriert. Trotz internationaler Warnungen erklärte sie noch am 13. März, dass es keinen gesundheitlichen Notstand in Indien gebe - während die Lokalregierung in Delhi bereits Versammlungseinschränkungen verhängt hatte. Mitte März fanden überall in Indien noch religiöse Massenveranstaltungen statt, etwa ein hinduistisches Pilgerfest am 17. und 18. März im südindischen Tirupati-Tempel, an dem 40 000 teilnahmen.

»Doch die Regierung von Ministerpräsident Narendra Modi hat bewusst versucht, die Tablighi-Jamaat-Affäre zu dramatisieren und hervorzuheben«, so Achin Vanaik, emeritierter Dekan der Fakultät für Internationale Politik an der Universität Delhi und Autor des Buches »Der Aufstieg des Hindu-Autoritarismus«. Sie habe der »Verfolgung und Lokalisierung der Teilnehmer des Tablighi-Treffens in Delhi höchste Priorität eingeräumt«. Keine andere Massenveranstaltung habe eine ähnliche Aufmerksamkeit durch Behörden und Medien erfahren. »Die Botschaft der Hindunationalisten, dass die Muslime wieder mal die Hauptbedrohung sind, lenkt von den Versäumnissen der Regierung ab«, so Vanaik. Diese habe viel zu lange gezögert, bis sie überhaupt bereit war, Maßnahmen zu ergreifen. Und habe - wie andere Regierungen auch - im Rahmen ihrer neoliberalen Politik das öffentliche Gesundheitssystem in den vergangenen Jahren regelrecht »ausgehöhlt«. Vor allem habe die Regierung keine Antwort auf die Situation der Wanderarbeiter, die überall in Indien gestrandet sind und nicht adäquat versorgt werden.

Die Saat der Hindunationalisten geht auf: Wenn Ershad Hossain und seine Kollegen in Mumbai für Lebensmittelhilfe anstehen, werden sie oft abgewiesen. Einzelne Ärzte weigern sich, Muslime zu behandeln, radikale Hindus greifen Moscheen an, eine Bürgerwehr in einem Nachbarstadtteil Nizamuddins hat Barrikaden errichtet. Im Bundesstaat Assam sind Wanderarbeiter von einem bewaffneten Mob attackiert worden, in Karnataka verprügelten Dorfbewohner Muslime, weil sie »Coronavirus-Verteiler« seien. In der Nähe von Delhi kam es zu einem ersten Lynchmord.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.