Der Aufstand als Prävention

Die überfüllten Gefängnisse in Nahost sind der ideale Nährboden für das Coronavirus - das wissen Häftlinge wie auch die Regierungen

  • Philip Malzahn
  • Lesedauer: 5 Min.

Man stelle sich vor, das eigene Leben findet in einer dunklen Zelle statt, die man mit bis zu 90 weiteren Menschen teilt. Man schläft auf dem Boden, jeder auf der Seite; um auf dem Rücken zu liegen, ist kein Platz. Ein einziges Loch in der Ecke dient als Abfluss - die Dusche ist gleichzeitig die Toilette. Und als ob die ewige Monotonie des Gefängnisalltags nicht genug ist, dringen auf einmal Gerüchte von einem sich rasch ausbreitenden, neuartigen Virus durch die hohen Mauern. Vor allem geschwächte Menschen mit Vorerkrankung sollen davon lebensbedrohlich gefährdet sein.

So oder zumindest so ähnlich geht es wohl derzeit Hunderttausenden Häftlingen, die von Marokko bis Iran in den vielen maßlos überfüllten Gefängnisse sitzen. Geschwächt, krank und deshalb besonders gefährdet sind die meisten Insassen: Mangelernährung und katastrophale Hygienebedingungen begünstigen die Ausbreitung jeglicher Krankheit. Selbst das 11,5-Millionen-Einwohner-Land Tunesien, das sich von allen anderen Ländern in Sachen Rechtsstaatlichkeit positiv hervorhebt, vermeldete 2017 über 20 000 Gefangene. Zum Vergleich: Deutschland mit über 80 Millionen Einwohnern hatte im selben Jahr nur knapp über 60 000 Gefangene - offener Vollzug inklusive. Das liegt nicht etwa daran, dass Kriminalität weiter verbreitet ist als in der Bundesrepublik, sondern dass es viel leichter ist, ins Gefängnis zu kommen. Selbst kleine Delikte wie Diebstahl werden in Eilverfahren mit schweren Strafen belegt. Dazu kommen Hunderttausende politische Gefangene.

Verzweifelte Gewalt

Jedes Gefängnis ist ein Pulverfass. Meistens sind die Wärter gegenüber den Häftlingen in der absoluten Minderheit. Im Zuge der Coronakrise ist es auf der ganzen Welt zu tödlichen Auseinandersetzung zwischen Häftlingen und Sicherheitskräften gekommen. In Kolumbien starben Ende März 23 Häftlinge bei einem Aufstand. In derselben Woche schossen Sicherheitskräfte im Libanon mit scharfer Munition auf Insassen bei Auseinandersetzungen; wie viele dabei umkamen, ist bis heute unklar. In den darauffolgenden Wochen kam es unter anderem zu Aufständen in Bahrain, Brasilien, Iran, Indonesien, Thailand, Schottland, Syrien und auf den Philippinen. Sogar in Italien kam es in über 50 Gefängnissen zu Gewalt aus Furcht vor dem Virus. Dabei starben insgesamt 13 Häftlinge.

Absoluter Spitzenreiter im Nahen und Mittleren Osten ist der Iran mit über 280 000 Gefangenen bei 82 Millionen Einwohnern. Die Zahl der Gefangenen hat sich im letzten Jahrzehnt beinahe verdoppelt. Grund ist die Verhaftungswelle, die auf die Niederschlagung der sogenannten Grünen Bewegung 2009 folgte. Entsprechend überlastet ist auch die Infrastruktur des Strafvollzugs. Gleichzeitig wütet im Iran auch das Coronavirus am stärksten - die Mischung ist explosiv. Nicht zuletzt deshalb hatte die Führung in Teheran bereits früh die zumindest temporäre Entlassung von über 100 000 Gefangenen angekündigt. Pünktlich zum Neujahrsfest Nouruz sollten damit unzählige Familien wieder mit ihren Liebsten vereint werden und die sich ausbreitende Panik in den Gefängnissen entschärft - so zumindest die Hoffnung. Doch es kam anders. Unter anderem in den Gefängnissen Aligudarz, Hamedan und Tabriz gab es bei tagelangen Aufständen Dutzende Tote. Die Rede ist von über 40, wobei die Zahlen schwer zu bestätigen sind. Die staatliche Nachrichtenagentur IRNA berichtete Anfang April, dass 70 Insassen aus Angst vor dem Virus aus dem Saqqez-Gefängnis in der iranischen Provinz Westkurdistan geflohen seien.

Die Professorin für Politikwissenschaft an der Queen-Mary-Universität in London, Laleh Khalili, die regelmäßig zum Thema Gefängnisse in der Region publiziert, sagte gegenüber dem Fernsehsender Al Jazeera, dass es nicht die Priorität der dortigen Regierungen sei, die Gesundheit ihrer Bevölkerung zu schützen, geschweige denn die der Häftlinge. Ihrer Ansicht nach konnten einige Regierungen die Pandemie ausnutzen, um weitere soziale Kontrolle auszuüben, da ihre Sicherheitsbedenken »weitaus wichtiger sind als die Gesundheit der Bürger«. »Die bloße Bedrohung durch die Krankheit kann dazu dienen, Gefangene zu terrorisieren«, sagte sie. »Leider wird die Notlage der Gefangenen nicht priorisiert.«

Die ägyptische Methode

Die ägyptische Regierung lehnt es trotz des Drucks aus dem In- und Ausland ab, Gefangene aufgrund des Coronavirus freizulassen. Die Menschenrechtsgruppe Amnesty International forderte das Land im vergangenen Monat auf, »alle Aktivisten und Menschenrechtsverteidiger, die nur wegen friedlicher Äußerung ihrer Ansichten inhaftiert sind, sowie Untersuchungshäftlinge und schutzbedürftige Gefangene freizulassen«.

Ein ehemaliger Häftling, der anonym bleiben möchte, sagte gegenüber Al Jazeera, dass sich in den Gefängnissen aufgrund unhygienischer Bedingungen und Überfüllung eine »Katastrophe zusammenbraut«. Er selbst hatte zwei Jahre in einer engen Zelle mit 25 anderen Männern im Gefängnis Borg al-Arab in der Nähe der nordägyptischen Stadt Alexandria verbracht und erzählt, wie ein Loch im Boden als rudimentärer Ort zum Duschen und als Latrine fungierte. »Wir hatten eine zerlumpte Decke, die wir als Tür benutzten, und mit dem wenigen fließenden Wasser, das wir hatten, haben wir den ganzen Schmutz auf einem bereits schmutzigen Zementboden weggespült«, sagte der ehemalige Insasse, der Ende 2015 freigelassen wurde.

Er äußerte zudem die Befürchtung, dass die fragile Gesundheit einiger Gefangener durch die Entscheidung der Behörden, Familienbesuche auszusetzen, verschlechtert würde, da die medizinische Versorgung der Insassen stark von diesen Besuchen abhängt.

Eine Gefahr für die Welt

Auch in Syrien hat es bereits Gefängnisaufstände gegeben. Im von Krieg geplagten Land haben diese eine verschärfte Brisanz: Sie bedeuten eine Gefahr für die globale Sicherheit. Im zum größten Teil kurdisch verwalteten Nordsyrien sind über 100 000 Anhänger der Terrormiliz IS in Lagern und Gefängnissen untergebracht. Die dort regierende Autonome Selbstverwaltung ist seit Jahren mit der Aufgabe überfordert und warnt schon lange davor, dass Aufstände der Insassen zu einem Wiederaufleben des IS beitragen könnten. Alleine in der Stadt al-Hasaka sind 5000 Anhänger der Terrormiliz in einem Hochsicherheitsgefängnis untergebracht. Ende März konnten die dortigen Insassen das gesamte Erdgeschoss eines Gebäudes unter ihre Kontrolle bringen; mehreren Terroristen gelang die Flucht. Obwohl Sicherheitskräfte den Aufstand beenden und die Flüchtigen wieder einfangen konnten, zeigt das Beispiel, wie fragil die Situation ist.

Das grassierende Coronavirus verschärft die Probleme, mit denen Regierungen und Gesellschaften auf der ganzen Welt kämpfen. Wie in der Wirtschaft oder im Gesundheitswesen wird auch in Bezug auf den globalen Strafvollzug offenbart, welche chronischen Missstände in den meisten Ländern herrschen. Trotzdem wird das Virus wohl kaum zu einer grundsätzlichen Reform des Strafsystems in den einzelnen Ländern führen, obwohl es ein durchaus passender Anlass wäre.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.