Infektionsschutz vom Küchentisch

1500 Masken schafft Familie Khan in Delhi täglich / Ihr Produkt geht auch nach Europa

  • Shams Ul Haq
  • Lesedauer: 6 Min.

Jeden Tag um sechs Uhr steht Arman Khan* auf und macht sich auf den Weg. Seine Frau Amina und seine Kinder Ali, Alam und Suahil schlafen noch. Arman Khan lebt in der Gegend Shri Ram Colony, Khajuri, Delhi. Zu Fuß geht er den Weg zu einer nahe gelegenen Textilfabrik im Großraum der indischen Hauptstadt. Dorthin, wo er zuvor gearbeitet hat. Heute arbeitet er nicht mehr in der Firma, dafür aber weiter für die Firma - daheim.

15 Euro Familienverdienst für einen ganzen Tag Arbeit

Auch in Indien gelten die Regeln der Coronapandemie - Lockdown, Ausgangssperre und Bewegungseinschränkungen. Arman Khan packt in der Fabrik die Materialien ein, die er braucht, und macht sich wieder auf den Heimweg. Und dann nähen er, seine Frau und seine Kinder den ganzen Tag - gesetzeskonform streng abgeriegelt von der Außenwelt in ihrer armseligen Wohnung. Bis der Kreislauf am nächsten Tag wieder von vorn beginnt.

Arman Khan und seine Familie arbeiten an einem Gut, das zu einem der weltweit begehrtesten geworden ist. Ein Gut, wegen dem sich Regierungen streiten und gegenseitig ausbooten, das zum Gegenstand diplomatischer Bemühungen geworden ist. Ein kleines Stück Stoff oder Zellstoff, groß genug, um Mund und Nase eines Menschen zu bedecken, zwei Riemen, die es am Kopf befestigen. Atemschutzmasken. Ein Utensil, das in der westlichen Welt zu einem Symbol des Kampfes um Normalisierung geworden ist, um einen Neustart der Wirtschaft, die Rückkehr zur Normalität oder wenigstens den Eintritt in eine »neue Normalität«. Eine Ware, für die Staaten Geld in großen Mengen locker machen.

Die Familie Khan bekommt dafür pro Stück einen Rupi, das sind umgerechnet 0,012 Euro. 1500 Masken schaffen sie pro Tag. Das macht rund 15 Euro - also drei Euro pro Nase in der Familie Khan.

Die Khans leben in einem ärmlichen Außenbezirk. Kleine Häuser, enge Gassen, durch die kaum ein Motorrad passt, aber bei Regen der Schlamm fließt. Die Menge von 1500 Masken pro Tag kann die Familie nur mit Hilfe der Kinder schaffen. Und auch wenn sie sich die größte Mühe geben: Was sie in ihren eigenen vier Wänden da zusammennähen, entspricht nicht den Standards, denen ein Produkt mit Gesundheits- und Hygienefunktion gerecht werden müsste. Erst recht nicht in Zeiten der Corona-Pandemie, zu deren Eindämmung sie gedacht sind.

Das Geschäftsmodell ist einfach. Ein Zwischenhändler aus Neu Delhi holt die Masken von Zeit zu Zeit und verkauft sie dann zum vierfachen Preis innerhalb wie außerhalb Indiens als zertifizierte Masken. Arman Khan bekommt ihn kaum zu Gesicht. Er ist froh, die Arbeit zu haben, denn seine Familie braucht Geld, das sie einbringt.

Gefangen in einer illegalen Maschinerie

Zwischenhändler wie Jaibo Diagnistoc & Scientifics* sind es, die auf diesem Wege derzeit ein Vermögen machen. Jaibo Diagnistoc & Scientifics produziert, kauft und verpackt Masken und verkauft diese in Neu Delhi weiter an andere Produzenten oder medizinische Abteilungen wie Arztpraxen, Krankenhäuser, Apotheken, Pflegeheime und auch das Gesundheitsministerium.

Dieser Zwischenhändler bietet zudem medizinische Schutzkleidung an. Sie ist unabdingbar bei der Behandlung hochinfektiöser Krankheiten wie Covid-19. Das angebotene Paket besteht aus mehreren Teilen: einem Overall in hellblauer Farbe, einem Paar Handschuhe und einem Paar Schuhüberzüge sowie Schutzbrille, Gesichtsmaske und einem Müllsack. In der Fabrik, die den Händler beliefert, wird zur Zeit in 24-Stunden-Schichten gearbeitet, weil die Nachfrage so groß ist.

Mit Zertifikat des Gesundheitsministeriums

Wer bei dem Wort Fabrik allerdings an saubere Fertigungshallen, an Produktionsketten und Produktionsstandards denkt, liegt daneben: Der Sitz der Firma ist eine Werkstatt in einem ähnlich armen Bezirk wie der Arman Khans. Immerhin wird nicht in einer Wohnung produziert, nicht auf einem auch zum Frühstück genutzten Küchentisch genäht. Es gibt einige kleine lichtlose Räume, Rollen mit Fertigungsmaterialien lehnen an einer Wand mit bröckelndem Putz. Zugeschnitten wird auf einem Holztisch. Nur in die Tür zur Werkstatt haben die Inhaber sichtlich investiert: Sie gleicht der eines Safes.

Solche Firmen stellten auch die als KN 95 oder FFP 2 klassifizierten Masken her, gibt ein anderer Zwischenhändler bereitwillig Auskunft. Und dies, obwohl eine solche Klassifizierung das Okay des Gesundheitsministeriums voraussetzt.

Die Jaibo Diagnistoc & Scientifics ist nicht die einzige Firma ihrer Art. Alleine in Neu Delhi gibt es zahlreiche Zwischenhändler, die so vorgehen wie sie und ebenfalls Masken in Heimarbeit anfertigen lassen. Betrachtet man die Firmenadressen näher, sind die Unternehmen gewöhnlich in Privathäusern oder Wohnungen registriert. Und auf die Frage, an wen die Masken genau gehen, folgt Schweigen oder eine Geschichte darüber, dass man Menschen helfen wolle und doch nur einer bestehenden Nachfrage gerecht werde.

Auf den Websites dieser Firmen erhält man den Eindruck, es mit ein hochseriösen, professionellen Unternehmen zu tun zu haben. Wie bei der Jaibo Diagnistoc & Scientifics. Und die kann auch Zertifikate vorweisen: Dokumente, die für einen Verkauf, vor allem aber auch für den Export unentbehrlich sind. Und die Firma kann auf eine jahrelange Erfahrung verweisen: Erste Zertifikate wurden 2014 ausgestellt.

Masken aus der Produktion der Familie Khan gelangen auch nach Europa. Arman Khan weiß nicht genau, wohin. Sein Chef habe ihm nur gesagt, dass sie dorthin transportiert werden. Eine Anfrage für ein ausführlicheres Interview hat der Zwischenhändler zurückgewiesen.

Not macht ebenso gefügig wie verschwiegen. Während zahllosen Tagelöhnern in Indien dieser Tage wegen der gnadenlosen staatlich verordnete Zwangsmaßnahmen der Hungertod fernab ihrer Familien droht, sind die Khans beisammen und haben zumindest die Möglichkeit, ihren armseligen Lebensunterhalt zu verdienen. Die Familie hat Glück: Sie hat Arbeit, sie hat ein Einkommen. Das verdankt sie den Beziehungen des 34-jährigen Vaters zum Zwischenhändler. Der tägliche Spießrutenlauf an den Straßensperren vorbei ist dabei eine Unannehmlichkeit. Mehr nicht.

Ökonomen wie Menschenrechtler und humanitäre Helfer sind sich einig: Der Kampf Indiens in dieser Krise wird erst nach der Pandemie so richtig beginnen. Und zwar allen positiven wirtschaftlichen Parametern zum Trotz. Wegen niedriger Ölpreise, der billigen Arbeitskräfte im Land sowie einer prognostizierten ansteigenden Nachfrage sagt der Internationale Währungsfonds dem Land für das Jahr 2021 ein Wachstum von sieben Prozent voraus.

Wanderarbeiter stecken fest, ihre Familien hungern

Aber Millionen von Tagelöhnern stehen jetzt vor dem Nichts. Ein Hilfspaket der Regierung im Umfang von 22,5 Milliarden für eben diesen Graubereich der Wirtschaft wird allgemein als kaum ausreichend und ineffizient bezeichnet. Das Geld kommt nicht an bei denen, die es benötigen. Die Wanderarbeiter versorgen ihre Familien in der Provinz. Viele diese Arbeiter stecken jetzt an den Orten fest, wo sie zuletzt gearbeitet haben. Ohne Arbeit kein Geld. Und ohne Geld kein Essen für Familien. Humanitäre Organisationen sagen dem fruchtbaren und potenziell reichen Schwellenland Indien schon bald eine massive Hungersnot voraus.

Solange das Geschäft mit den Masken funktioniert, sind die Khans einigermaßen abgesichert. Auch wenn der Lohn von 15 Euro pro Tag gerade einmal reicht, um die Grundversorgung für eine fünfköpfige Familie zu decken - Nahrung für die Kinder und die Eltern. Die Miete der Zweizimmerwohnung beträgt 3000 Rupees. Außerdem fallen Kosten für Strom an. Er könne so eben von seinem jetzigen Verdienst leben, sagt Khan. Aber eines Tages, so hofft er, werde die Fabrik ja auch wieder aufmachen. Wann, das steht allerdings in den Sternen.

* Namen von der Redaktion geändert

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