Vorwärtsträumen im Wärmestrom

Mit Ernst Bloch auf der Suche nach einer neuen linken Erzählung.

  • Karsten Krampitz
  • Lesedauer: 7 Min.

Und ginge morgen die Welt unter, ich würde heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen«: Es ist merkwürdig, dass das bekannte Lutherwort bei Ernst Bloch nicht erwähnt wird. Dabei hat der Philosoph der konkreten Utopie auf seiner 1600-Seiten-Odysee nun wirklich alles an Religion mitgenommen: den jüdischen Messianismus, Thomas Müntzer, den Buddhismus und so weiter. Wir dürfen annehmen, wenn sich der Reformator aus Wittenberg tatsächlich derart geäußert hätte: »Das Prinzip Hoffnung« hätte uns davon erzählt.

Religion war für Bloch nicht nur »Opium des Volkes«, wie bei Marx, also Schmerzmittel für die Armen. Religion konnte genauso gut Vitamin sein; die Projektion menschlicher Sehnsucht in den Himmel, wie sie Feuerbach postulierte, die oft aber auch einen Überschuss utopischen Denkens in sich trägt. Eben dieser Überschuss zieht sich bei Bloch als philosophisches Prinzip durch die Geschichte der Menschheit. Und das in allen Bereichen, etwa in der Oper, der Architektur oder in der Forschung.

»Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen«, schreibt Bloch und feiert das »Vorwärtsträumen« in der Weltgeschichte. Die Alpträume aber blendet er aus: Die Shoa wird bei ihm als eine Randerscheinung abgehandelt. Der Stalinismus taucht erst gar nicht auf. »Das Prinzip Hoffnung« gilt daher vielen Philosophiestudenten als Antipode zur Kritischen Theorie von Adorno und Horkheimer. Und Kritik an seinem Werk ist durchaus berechtigt. Auch am berühmten Schlussteil, wonach der Mensch eines Tages »das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet«. In der Welt werde dann etwas entstehen, »das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.«

Warum nur lässt Bloch sein Werk mit einem rechten Kampfbegriff ausklingen, fragt Thomas Ebermann in seiner aktuellen Polemik »Linke Heimatliebe«. Achim Kessler, Bundestagsabgeordneter der LINKEN, hält dagegen: Der Begriff ‚Heimat‘ sei kein rechter, sondern nur von den Rechten vereinnahmt. Und es sei eine kluge Strategie von Bloch, dieses Wort zurückerobern, weil die Menschen nun mal eine Heimat brauchen. Kessler, Gesundheitspolitiker in der Linksfraktion, hat über Blochs ästhetische Theorie promoviert.

Ebermann, einst ökosozialistischer Vordenker bei den Grünen, folgt womöglich einer falschen Prämisse. Menschen denken nicht in Begriffen, sondern in Bedeutungen. Selbst wenn wir »kontaminierte« Worte austauschen, wird deren Inhalt die neuen Bezeichnungen früher oder später einholen. Die Linke von heute sucht ständig neue Worte und Schreibweisen, aber das Denken der Leute hat sie damit nicht wirklich verändert, schon gar nicht die Verhältnisse.

Ernst Bloch wollte die Welt nicht nur interpretieren. Wehmütig blättern wir in den Seiten. Die »Zeit« schrieb vor vielen Jahren: »Bloch ist wohl der einzige deutsche Philosoph, den die Nazis 1933 nicht nur ausbürgerten, dessen Bücher sie nicht nur verbrannten, sondern den sie sogar steckbrieflich suchen ließen. Zürich, Paris, Prag.« Dieser Mensch hat Erfahrungen gemacht, die wir heute nur vom Hörensagen kennen. »Das Prinzip Hoffnung« war einmal, so die gleiche Zeitung an anderer Stelle, »das Handorakel der Intellektuellen, das Brevier der Unverzagten und das fünfte Evangelium kritischer Theologen«.

Der dritte Band ist im Westen 1959 erschienen - als die Philosophen noch Zeit hatten. Keine Klimakatastrophe; die Flüchtlinge kamen nur aus der DDR, und Ernst Bloch war einer von ihnen, im August ’61. Und bald rumorte es in den Hörsälen. Wie kein anderer deutscher Philosoph stand Bloch an der Seite der protestierenden Studenten. Noch zu seinen Lebzeiten wuchs der Einfluss der Gewerkschaften in Europa, die sozialdemokratischen Parteien in Deutschland und Schweden rückten nach links und die halbe Welt sprach vom Eurokommunismus. 1976, ein Jahr vor Blochs Tod, hatte die italienische KP bei der Parlamentswahl 34,4 Prozent errungen! Auch in Spanien und Frankreich erlebten die Reformkommunisten einen Aufstieg, der sie hoffen ließ.

All das aber ist lange her. Nach und nach wurde aus der Hoffnung eine Illusion. Der Zusammenbruch der betonkommunistischen Staatengebilde von 1989/90 wie auch das Ende der Sowjetunion taten ein Übriges. Aber wer weiß das noch? Manche haben sogar Linke vergessen, dass sie den Sozialismus vergessen haben. Und die Zeit wird knapp, um die Welt, die man früher verbessern wollte, wenigstens zu retten.

Erinnerung an die Zukunft

»Das Prinzip Hoffnung« aber ist immer noch großartige Literatur: die Erinnerung an eine Zukunft, die es so nicht mehr gibt, und an eine Linke, die noch eine Erzählung hatte. AfD und Grüne haben eine Erzählung - von der Apokalypse. Die Angst vor Flüchtlingen mobilisiert Wähler; ebenso die Angst vor der Ökokatastrophe. Und die Linke? Ihre Stärke war es einmal, dass sie den Menschen Hoffnung gegeben hat.

Noch vor hundert Jahren sind in diesem Land jeden Tag mindestens 1.000 Frauen und Männer einer linksradikalen Partei beigetreten. Die Zugehörigkeit zur Unabhängigen Sozialdemokratie gab ihnen ein Stück Würde zurück, die sie in der Fabrik, im Schützengraben oder in den engen Mietskasernen verloren hatten. Die Mitgliederzahl der USPD stieg 1920 von rund 500.000 auf gut 894.000! Bei den Reichstagswahlen desselben Jahres erreichten die »Unabhängigen« 17, 6 Prozent! Wie haben die das gemacht? Das Programm kann es nicht gewesen sein; radikalpazifistisch und sozial ist Die LINKE heute auch (und bestimmt genauso zerstritten). - Menschen wählen keine Programme, sondern Erzählungen. Die USPD hat ihre Politik noch historisch einordnen können, wozu auch ein Zukunftsmodell gehörte.

Der Fortschrittsglaube von damals hat sich als trügerisch erwiesen. Schon Walter Benjamin hatte Zweifel: »Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotiven der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zug reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.« Frage: Fährt die LINKE überhaupt auf dem richtigen Gleis? Nun, Irrwege verbessern die Ortskenntnis. Außerdem haben wir für die lange Fahrt die richtige Lektüre: »Das Prinzip Hoffnung«.

Blochs Marxismus-Vorstellung, jene Metapher vom Wärme- und Kältestrom, die einander ergänzen, lässt sich gut auf die LINKE übertragen. »Eine sozialistische Partei«, sagt Achim Kessler, »braucht auch heute einen Kälte- und einen Wärmestrom: Einen Kältestrom, der mit nüchternem Kalkül die gegenwärtigen Bedingungen der Realität und mögliche Schritte zu ihrer Veränderung ausmisst. Und einen Wärmestrom, der mit Leidenschaft die ferne Utopie einer Gesellschaft ausmalt und anstrebt, in der die Freiheit des Einzelnen die Bedingung für die Freiheit aller sein wird.«

Offenbar hatte der Wärmestrom unlängst auf der Strategiekonferenz etwas zu viel Temperatur. Die Äußerung Bernd Riexingers zum Umgang mit den Reichen nach der Revolution lässt darauf schließen. Und wie schon die Römer sagten: Quod licet Iovi, non licet bovi. (Was der Jupiter darf, darf der Ochse noch lange nicht.) Tim Fürup, ein Fußsoldat von der Antikapitalistischen Linken, hatte bei der Gelegenheit ein kurzes Plädoyer für die Außerparlamentarischen Bewegungen gehalten und damit eine böse »Spiegel«-Meldung provoziert. Der Kältestrom reagierte prompt: Fürup, der in der Bundestagsfraktion ein Auskommen gefunden hatte, ist »beurlaubt«. Auch das ist eine Utopie: dass Linke einander aushalten, damit so viel arme Schlucker wie möglich ein besseres Leben führen können.

Viele dieser Menschen aber - HartzIV-Empfänger, Niedriglöhner, Alleinerziehende usw. - finden sich in der LINKEN momentan nicht wieder, wo Gesinnung scheinbar wichtiger geworden ist als Gerechtigkeit.

Jan Korte, Parlamentarischer Geschäftsführer der Bundestagsfraktion, will, dass Linke wieder an die Stammtische gehen. Die Themen Identitätspolitik und Emanzipation gehören mit den ökonomischen Fragen zusammen. »Man kann die heterosexuelle Arbeiterin ohne Migrationshintergrund nicht gegen den homosexuellen Antirassisten ausspielen«, sagt er in seinem neuen Buch. Die Anliegen beider seien wichtig, beide seien Zielgruppe der gesellschaftlichen Linken. »Aber ein wichtiger Teil des Zielpublikums ist eben in den vergangenen Jahren in den Debatten nicht mehr vorgekommen.« Dieses Nicht-Vorkommen sei ein wichtiger Grund für das Abwenden von linken Ideen und auch Parteien. Korte sagt: »Linke müssen immer auf der Seite der Loser sein.«

Und noch eine schöne Hoffnung: Die LINKE als bekennende, selbstbewusste Verliererpartei. Und dann schauen wir mal, was außerdem noch geht. Luthers Kirche macht auch weiter - obwohl Gott schon lange tot ist.

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