- Berlin
- 1. Mai
Autonome und Gendarmen
Tausende Linke protestieren am 1. Mai trotz Demo-Verboten in Berlin-Kreuzberg
So richtig wusste keiner, wie er aussehen würde, der traditionelle 1.-Mai-Protest der linksradikalen Szene in Zeiten von Corona und Abstandsgeboten. Angekündigt waren Aktionen rund um die Kreuzberger Oranienstraße, also sammelten sich am frühen Abend in den umliegenden Straßen trotz weitläufiger Polizeisperren Hunderte Menschen und warteten auf Anweisungen. Dann die erste Ansage per Twitter: Erster Treffpunkt um 18.40 Uhr am Görlitzer Bahnhof. Die schwarz gekleideten Massen machen sich auf den Weg, die Polizei ist sichtlich nervös. Transparente werden entrollt, Sprechchöre erklingen, es geht los. Eine erste Spontandemo in der Wiener Straße kann die Polizei nach wenigen Metern noch stoppen, doch ihr Ziel, keine Demos zuzulassen, wird sie an diesem Abend nicht erreichen.
Es ist ein unübersichtliches Katz-und-Maus-Spiel, das sich die radikale Linke am Freitagabend mit den 5000 eingesetzten Beamt*innen liefert: Immer wieder formieren sich an unterschiedlichen Stellen Spontandemonstrationen, die von den Einsatzkräften nicht verhindert werden können. Am zweiten Treffpunkt um 19.30 Uhr an der Kottbusser Brücke sind es bereits mehrere Hundert Menschen, die auf Transparenten die Evakuierung des griechischen Flüchtlingslagers Moria fordern. Auch neue Demosprüche sind zu hören: »Gesundheit für alle, sonst gibt’s Krawalle«, tönt es durch die Straßen. Immer wieder knallt es und Feuerwerk wird gezündet. Abstand halten ist hier längst nicht mehr möglich, weder zu den vermummten Demonstrant*innen, noch zu den Polizist*innen, die meist ohne Mundschutz unterwegs sind.
Insgesamt 3000 Demonstrant*innen sind nach Schätzungen der Veranstalter*innen an diesem Abend auf den Straßen. Das geplante Abschlusstreffen um 20 Uhr am Mariannenplatz kann die Polizei zwar verhindern, nicht jedoch, dass sich rund um die Absperrungen zahlreiche Protestierende versammeln. Statt des wegen seines kommerziellen Charakters bei den Linksradikalen verhassten Myfests feiern in diesem Jahr Autonome ein Straßenfest: In der Mariannenstraße tönt laute Punkmusik aus den Fenstern, Leute tanzen ausgelassen auf der Straße im farbigen Nebel der zahlreichen Rauchtöpfe und rufen »Hoch die internationale Solidarität«, auf Hausdächern und Balkonen brennt massenhaft Feuerwerk ab.
Alles in allem bleibt es jedoch erstaunlich ruhig. Innensenator Andreas Geisel (SPD) spricht am Samstag von einem »erfolgreichen, gewaltfreien und friedlichen 1. Mai«, wie ihn Berlin seit vielen Jahren nicht mehr erlebt habe – auch wenn der Infektionsschutz »wegen der schieren Masse von Menschen nicht in der Form durchgesetzt werden konnte, wie ich es mir gewünscht hätte«. Auch die Gewerkschaft der Polizei (GdP) zieht ein positives Fazit, will angesichts von 18 verletzten Polizist*innen aber nicht von einem friedlichen Tag der Arbeit sprechen. Für Polizeipräsidentin Barbara Slowik war es trotzdem »einer der friedlichsten, wenn nicht der friedlichste 1. Mai«.
Laut offizieller Bilanz der Polizei wurden über den Tag verteilt in Berlin insgesamt 330 Personen zur Identitätsfeststellung kurzzeitig festgehalten, 91 davon allein bei einer Demonstration am Rosa-Luxemburg-Platz in Mitte. Mehr als 120 Ermittlungsverfahren wegen Landfriedensbruchs, Angriffen auf Polizisten und Verstößen gegen die Corona-Regeln wurden eingeleitet, 25 Personen vorläufig festgenommen.
Das Revolutionäre 1.-Mai-Bündnis kritisiert Polizeigewalt, zeigt sich in einer ersten Bilanz jedoch zufrieden mit den Ereignissen: »Tausende Menschen haben in der Walpurgisnacht und am 1. Mai gezeigt, dass sich Protest in Berlin nicht verbieten lässt, sondern wir selbst entscheiden, wann und wie wir demonstrieren«, heißt es in einer Stellungnahme. Die Polizei sei »sichtlich überfordert von der Spontanität der Massen« und oft zu spät vor Ort gewesen.
Kritik übt das Bündnis vor allem am »unverantwortlichen Verhalten der Staatsmacht«, deren Vertreter ohne Mundschutz und dicht gedrängt aufgetreten seien. Dass rund 1400 Polizist*innen aus anderen Bundesländern »in engen Einsatzwagen nach Berlin geschickt« wurden, sei das eigentliche Gesundheitsrisiko – und nicht diejenigen, »die ihr Grundrecht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit in Anspruch nahmen«. Auch die Hilfsorganisation Rote Hilfe Berlin kritisiert das Verhalten der Polizei: »Anstatt Menschen die Möglichkeit zu geben, mit Abstand zu protestieren, wurden die Demonstrantinnen immer wieder in Kesseln zusammengedrängt.« Der Polizei sei es nicht um Infektionsschutz, sondern die »totale Kontrolle des öffentlichen Raums« gegangen, so Sprecher Alex Schneider.
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