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Wie ein Bildhauer im Kloster
Zum 75. Jahrestag des Sieges über den Faschismus: »Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui« wird in Moskau inszeniert
Das multimediale Konferenzprogramm Zoom erlebt derzeit einen ungeheuren Zuspruch, alle Welt nutzt es: Universitäten, Konzerne, sogar Familien. In Moskau hantiert derzeit ein deutscher Filmregisseur damit, um ein Stück von Bertolt Brecht zu inszenieren: Siegfried Kühn, DEFA-Regisseur von Rang (»Die Schauspielerin«, 1989). Kühn hat von 1959 bis 1964 an der Moskauer Filmhochschule (WGIK) studiert und sich mit einem gleichaltrigen Schauspieler angefreundet: Nikolai Gubenko. Zusammen machten sie ihren Hochschulabschluss: die Inszenierung von Brechts »Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui« als Diplomarbeit. Die furiose Inszenierung ging in die Annalen des Moskauer Instituts ein. Ihr Lehrer, der legendäre Filmregisseur Sergej Gerassimow (nach dem heute das WGIK benannt ist, er war auch der Lehrer Konrad Wolfs), spendete höchstes Lob.
Gubenko spielte später in Filmen mit (»Mit gebrochenen Schwingen«, 1977, der auch in Deutschland lief), unterrichtete selbst, war (und ist) Mitglied der Moskauer Stadtduma, zeitweilig war er sogar Kulturminister. Er gründete, als Dependance des berühmten Stammhauses, des »Taganka«-Theaters im Zentrum Moskaus, mit Schauspielkollegen die »Gemeinschaft der Taganka-Schauspieler«. Nun, im Alter, wollte er an seinen frühen Erfolg anknüpfen und noch einmal Brecht spielen und mit Kühn arbeiten, dazu stieß der Bühnenbildner von damals, Boris Blank. So weit, so gut. Handelt es sich hier bloß um Nostalgie und melancholische Erinnerungen von alten Herren?
Mitnichten: Kühn und Gubenko wollen mehr. Beide haben nie außerhalb von Raum und Zeit gelebt und gearbeitet, sondern immer eine sozial engagierte Kunst betrieben. Und es gefiel ihnen, Brechts grimmig-karikierende Parabel vom Aufstieg des Faschismus, »Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui«, als Denk- und Diskussionsvorschlag für gegenwärtige russische Entwicklungen anzubieten. Für Gubenko ist besonders wichtig, dass zum Jubiläum des antifaschistischen Sieges über den Nationalsozialismus ein deutscher Regisseur das Brecht-Stück und mit dessen Hauptfigur den Prototyp von Hitler auf die Bühne bringt.
Die Premiere wird wegen der Corona-Krise nicht zum Jahrestag des Sieges stattfinden können, aber auch eine Verschiebung mindert nicht die Aktualität des Stücks. In Moskau sieht man krasse Analogien sozialer Verschiebungen im Verhältnis zwischen Zentralmacht und dem Land, denn Brechts groteske Darstellung historischer Realitäten gestattet Einblicke in ökonomische und politische Verflechtungen der Mächtigen. Und Kühn sieht für Deutschland die Machtspiele von Fondsgesellschaften mit Staatsanleihen als Anzeichen von Korruption. Kühn ist überzeugt, dass sich das an den Hauptfiguren festmachen lässt.
Die tägliche Inszenierungsarbeit wird von der Corona-Krise massiv beeinflusst. Kühn und die Schauspieler proben per Skype und Zoom von zuhause aus, zweimal am Tag, da abends keine Vorstellungen stattfinden können, wegen der allgemeinen Ausgangssperre. Probenräume sehen ohnehin trist und öde aus, aber nun, per Netz, braucht es vermehrt die Fantasie der Komödianten und des Regisseurs. Kühn nennt seine Quarantäne in Moskau ein »Kloster« und sieht sie als Herausforderung: Er hat »noch nie so genau mit den Schauspielern am Text« gearbeitet. »Ich muss aus den Schauspielern Charaktere meißeln wie ein Bildhauer, falls er einen guten Stein gefunden hat.« Für den Ui arbeitet er mit zwei Schauspielern, Freund Gubenko wird das Finale gestalten. Es wird interessant sein, herauszufinden und zu sehen, ob diese Brechung in zwei Figuren nur physische Asymmetrie zeigt oder ob diese Schizophrenie als Politikum erkannt werden kann.
Kühns künstlerische Arbeit in Moskau kann als kleiner Baustein verstanden werden, das derzeit schwierige Verhältnis zwischen Russen und Deutschen aufzulockern, wenngleich auf einem eher abgelegenen Schauplatz. Erst kürzlich hatte ein gegenläufiges Beispiel zu Kühn/Gubenko von sich reden gemacht: Der Moskauer Regisseur Kirill Serebrennikow hatte in einer Koproduktion zwischen seinem Moskauer Gogol-Center und dem Deutschen Theater Berlin eine moderne Version von Boccaccios »Decamerone« inszeniert, deren Berliner Repertoire-Vorstellungen der Corona zum Opfer fielen.
Sanktionen per Kunst gibt es nicht. Und: Die Initiativen von Einzelnen, insbesondere von Künstlern, können offenbar für die deutsch-russischen Verhältnisse derzeit mehr ausrichten als die Diplomaten (ohne deren Bemühungen zu unterschätzen).
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