Ausgerechnet Europa
Memes, Andrej Tarkowskij und die Fleischindustrie: Das Go-East-Filmfestival findet dieses Jahr online statt
Vor zwanzig Jahren - die sogenannte Osterweiterung der Europäischen Union stand kurz bevor und man blickte optimistisch in die Zukunft eines gemeinsamen Europas - wurde das Go-East-Festival für Filme aus Mittel- und Osteuropa gegründet. Es sollte das Publikum in Deutschland mit einer Filmkultur bekannt machen, die hier oft unterbelichtet bleibt.
Das damalige Ziel des Festivals, eine Brücke zu schlagen zwischen West- und Osteuropa, ist heute aktueller denn je: Denn vom Optimismus des Gründungsjahres ist wenig geblieben, die Gräben scheinen sich eher zu vertiefen, und nationalistische Einstellungen verstärken sich im Osten wie im Westen. Das Klischee vom scheinbar einfachen Gegensatz zwischen einem offenen, liberalen Westen und einem autoritären, antiliberalen Osten, wo ein traditionelles Familienbild und Homophobie vorherrschen, wird ebenfalls wieder präsenter.
Ausgerechnet in diesem Jubiläumsjahr kann das Go-East-Festival aber aufgrund der Pandemie nicht wie gewohnt in Wiesbaden stattfinden. Ein Großteil des Programms wurde jedoch online verlegt und kann bis zum Festivalabschluss »on demand« angesehen werden. Der Vorteil des Online-Angebots: Die Filme des Go-East sind nicht mehr auf die Region beschränkt, sondern können von überall angeschaut werden.
Die Festivalleitung hat sich aber dagegen entschieden, ein reines Onlinefestival anzubieten. Einige Veranstaltungen wie das Symposium werden auf den Sommer verschoben, und die Wettbewerbsfilme sollen im November in Wiesbaden auf der großen Leinwand gezeigt werden. Zudem wird das diesjährige Preisgeld für den Wettbewerb unter allen Kandidat*innen aufgeteilt, um Filmemacher*innen in der derzeitigen schwierigen Situation zu unterstützen.
Die Themen der Filme sind vielfältig, die meisten verbindet aber eine politische Grundhaltung: Die Blick richtet sich häufig auf die Härte postsowjetischer Realitäten. Mit der Sektion »Europa, Europa« will das Festival die komplexen Verhältnisse des Kontinents reflektieren - mit weiblichen Perspektiven und Themen wie Arbeitsmigration, Rassismus sowie der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und die Nachkriegszeit.
Der lettische Regisseur Juris Kursietis erzählt beispielsweise die Geschichte von »Oleg«, der seinen Job in der belgischen Fleischindustrie verliert und in Abhängigkeiten und Ausweglosigkeit gerät. Damit trifft der Film in die aktuellen Debatten um Ausbeutung von Menschen aus dem EU- und Nicht-EU-Ausland.
Der ukrainische Regisseur Oleg Sentsov, der erst im September vergangenen Jahres aus der Haft in Russland entlassen wurde, präsentiert mit »Numbers« den politischsten Film des Festivals. Das Werk über Autorität und Hörigkeit hat der Regisseur noch aus dem Gefängnis heraus inszeniert.
Das Epos »The Painted Bird« von Václav Marhoul sorgte schon bei der Premiere auf den Filmfestspielen von Venedig für Diskussionen. Die Romanverfilmung erzählt die Geschichte eines jugendlichen Flüchtlings während des Zweiten Weltkriegs. Das Setting lässt allerdings auch aktuellere Bezüge zu. Der Junge begegnet auf seinem Weg grausamer Gewalt, deren explizite Darstellung von vielen kritisiert wurde. Inwiefern zur Schilderung von Grausamkeit solche Darstellungen nötig sind und warum die Darsteller des Films extra die Kunstsprache »Interslawisch« lernen mussten, kann man an diesem Sonntag bei der Online-Masterclass des Regisseurs erfahren.
Auch andere Diskussionsrunden finden digital statt, wie das Werkstattgespräch mit dem rumänischen Regisseur Radu Jude, dem die diesjährige Porträt-Sektion gewidmet ist. Sein neuester Film »Uppercase Print« beschäftigt sich mit der Diktatur unter Nicolae Ceausescu und ist ebenfalls online zu sehen.
Mit »Andrej Tarkowskij. Ein Gebet in Bildern« hat Andrej Tarkowskij jr. einen philosophischen Film über seinen Vater gedreht und zeigt darin seltene Archivaufnahmen des großen russischen Regisseurs von »Stalker« und »Solaris«.
Für Abwechslung sorgt die estnisch-äthiopische Koproduktion »Jesus shows you the way to the highway« - ein trashiges Science-Fiction-Exploitation-Mash-up in B-Movie-Ästhetik mit einer Mischung aus sowjetischen Symbolen, Afrofuturismus, Riesenmoskitos, CIA-Agenten und Kickboxing.
Die Ausstellung »Memes aus Slawistan« hätte eigentlich ein Online-Phänomen offline präsentieren sollen - jetzt bleiben die Memes an ihrem Ursprungsort, im Internet. Sie macht die osteuropäischen Bildwitze, die nicht ohne entsprechende Sprachkenntnisse und kulturelles Hintergrundwissen verstanden werden können, auch für das deutschsprachige Publikum zugänglich.
Go-East-Filmfestival, bis 10. Mai. www.filmfestival-goeast.de
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.