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Das Recht des Stärkeren
Der INF-Abrüstungsvertrag ist Geschichte - folgt jetzt ein Angriff auf den Vertrag zum Stopp der Atomtests?
Der 29. Mai 2019 könnte den Anfang vom Ende des Vertrages über ein vollständiges Verbot nuklearer Tests (Comprehensive Test Ban Treaty - CTBT) markieren. An diesem Tag hielt der Chef des Nachrichtendienstes des US-Militärs (DIA), Generalleutnant Robert P. Ashley, eine Rede bei einer rüstungskontrollkritischen, konservativen Denkfabrik in den USA, dem Hudson Institute.
Nach einer Beschreibung seiner Sicht der russischen Modernisierungsbemühungen bei Nuklearwaffen führte der General aus: »Die Vereinigten Staaten sind der Ansicht, dass Russland das Atomtestmoratorium wahrscheinlich nicht in einer Weise einhält, die dem Null-Sprengkraft-Standard entspricht. Unser Verständnis der Entwicklung von Atomwaffen lässt uns glauben, dass die Testaktivitäten Russlands dazu beitragen, die Fähigkeiten von Atomwaffen zu verbessern. Dagegen haben die Vereinigten Staaten auf solche Vorteile verzichtet, indem sie einen Null-Sprengkraft-Standard einhielten.«
Otfried Nassauer, Jahrgang 1956, ist Journalist und Friedensforscher. Seit 1991 leitet er das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit. Er ist Experte für sicherheitspolitische Entwicklungen, Rüstungskontrolle und Rüstungsexporte.
Der hier veröffentlichte Text ist die leicht gekürzte Fassung eines Artikels, der im April-Heft des außenpolitischen Journals »Welttrends« erschien. Es enthält u.a. einen Themenschwerpunkt zur Kernwaffenkontrolle.
Foto: Katrin Becker
Zum Weiterlesen: welttrends.de
Auf Nachfragen relativierte Ashley den Vorwurf ein wenig: Die DIA glaube, dass Russland über die Fähigkeit zu solchen Versuchen verfüge. Mit Blick auf China fügte er hinzu: »In den nächsten zehn Jahren wird China im Kontext des schnellsten Ausbaus und der Diversifikation seines Nuklearwaffenbestandes in der chinesischen Geschichte sein Kernwaffenpotenzial wahrscheinlich zumindest verdoppeln.« Das werfe die Frage auf, ob China überhaupt »diese Fortschritte ohne Aktivitäten realisieren könne, die mit dem Teststopp-Vertrag unvereinbar sind.«
Nach jahrzehntelangen Debatten und Verhandlungen war 1996 der Vertrag über ein vollständiges Verbot nuklearer Tests abgeschlossen worden. Bisher haben ihn 168 Staaten ratifiziert, darunter Frankreich, Großbritannien und Russland, während die USA und China noch nicht dazu bereit waren. Alle Kernwaffenstaaten außer Nordkorea befolgen derzeit ein Testmoratorium und verhalten sich so, als sei der CTBT verbindlich, unabhängig davon, ob sie ihn ratifiziert haben oder nicht. In der Trump-Administration gerät der Vertrag nun unter Beschuss gerät.
Ashleys Anschuldigungen finden sich drei Monate später auch erstmals im öffentlichen Teil des jährlichen Berichts des US-Außenministeriums über die Einhaltung von Übereinkommen zur Rüstungskontrolle, Nichtverbreitung und Abrüstung. Der indirekte Vorwurf des DIA-Chefs: Russland und China verletzen möglicherweise ihre Verpflichtungen aus dem Testmoratorium, und damit letztlich auch den CTBT, um ihre Atomwaffenarsenale besser modernisieren zu können. Beide fühlten sich im Gegensatz zu den USA nicht dazu verpflichtet, gänzlich auf Versuche zu verzichten, bei denen eine minimale nukleare Sprengkraft entsteht. Der genannte Bericht schlussfolgert lapidar: Die USA werden die Testaktivitäten Russlands und Chinas weiterhin überwachen.
Obwohl noch nicht in Kraft, bietet der Vertrag bereits heute wichtige Mechanismen zur Stärkung des Testverbots. In Wien ist eine Vorbereitungskommission für die CTBT-Organisation (CTBTO) tätig, die den Vertrag nach dem Inkrafttreten umsetzen soll. Die Vorbereitungskommission richtet auch ein internationales Überwachungssystem ein. Mehr noch, im Zweijahresrhythmus treffen sich Staaten, die den Vertrag bereits ratifizierten oder zumindest unterzeichneten, zu Konferenzen zur Förderung des Inkrafttretens des CTBT.
Im Hinblick auf die eingangs genannten Anschuldigungen seitens der USA erklärte der russische Außenminister Sergej Lawrow auf der jüngsten Konferenz am 25. September 2019, dass Russland seit seinem Nukleartestmoratorium 1991 »keine einzige nukleare Explosion« durchgeführt habe. Es beabsichtige, das Moratorium fortzuführen, »vorausgesetzt die anderen Nuklearstaaten folgen der gleichen Linie«. Bemerkenswerterweise nahmen die USA an der Konferenz im Unterschied zu früher nicht teil.
Ashley warf Russland nicht vor, klassische Atomtests wiederaufnehmen zu wollen. Sein Vorwurf ist spezieller und trickreich: Russland führe Versuche durch, die nicht dem Null-Sprengkraft-Standard entsprächen, also Versuche mit einer äußerst niedrigen nuklearen Sprengkraft. Solche Explosionen sind in der Regel mit seismischen Instrumenten kaum zu entdecken und können von kleinen konventionellen Explosionen auch meist nicht aus der Ferne unterschieden werden.
Die CTBTO-Vorbereitungskommission hat bislang keine verdächtigen Messresultate für Russland gemeldet. Sind Ashleys Anschuldigungen also falsch? Auch dieser Schluss wäre voreilig, denn er könnte sich auch auf andere Belege stützen, zum Beispiel auf einen Spion oder auf abgefangene geheime elektronische Nachrichten, beides Quellen, die Washington kaum öffentlich preisgeben würde.
Hinzu kommt ein zweites Problem: Es ist fraglich, ob es eine verbindlich vereinbarte Definition des Null-Sprengkraft-Standards gibt, oder ob jede Nuklearmacht hier ihre eigene Interpretation verwenden kann. Klar ist nur, dass der CTBT keine genaue, technisch unterscheidende Definition verbotener und erlaubter Explosionen enthält.
Wenn es, wie immer wieder einmal behauptet wird, eine Verständigung auf eine solche Definition gegeben hat, dann müsste diese Eingang in eine zusätzliche, geheime Verständigung zwischen den fünf Nuklearmächten des Atomwaffensperrvertrags gefunden haben. Damit könnte die Öffentlichkeit aber kaum überprüfen, ob Russland oder China das Moratorium verletzt haben. Robert Ashley ging bei seinem Vortrag offenbar nicht davon aus, dass es eine solche Übereinkunft gebe. Er unterstellte Moskau und Peking lediglich, sich wohl nicht an die US-Interpretation gebunden zu fühlen.
Die unsichere Faktenlage könnte zu einem wohlbekannten Phänomen führen: Die USA erheben eine Anschuldigung und fordern von Moskau Beweise, dass die Anschuldigung unzutreffend ist oder es das behauptete Ereignis nicht gab. Zu beweisen, dass es etwas nicht gibt oder gab, widerspricht den Gesetzen der Logik, ist aber in der Welt politisch motivierter Unterstellungen eine gern genutzte Argumentationsfigur. Fortan wird dann vorrangig über die Glaubwürdigkeit der russischen Dementis diskutiert und nicht mehr über den Wahrheitsgehalt der Anschuldigung aus Washington.
Der Vorwurf gewinnt dagegen dank permanenter Wiederholung und gelegentlich veröffentlichter, zusätzlicher Einzelheiten scheinbar an Glaubwürdigkeit. Zuletzt war dies zu beobachten, als die USA Moskau eine Verletzung des INF-Vertrags vorwarfen. Dieser wurde letztlich von den USA aufgekündigt.
Eine andere Beobachtung könnte in die gleiche Richtung weisen. In der grundlegenden Darstellung ihrer künftigen Nuklearpolitik, dem Nuclear Posture Review, äußerte sich die Trump-Administration 2018 auch zu ihrer künftigen Politik in Sachen CTBT. Sie werde an ihrem Moratorium für nukleare Testexplosionen festhalten, jedoch keine Ratifizierung des Vertrages anstreben und sich die Möglichkeit einer Wiederaufnahme nuklearer Tests vorbehalten.
An technischen Vorbereitungsarbeiten für Elemente des internationalen Kontrollsystems würden die USA weiter teilnehmen (International Monitoring System und International Data Center); das Instrument der Vor-Ort-Inspektion wird jedoch nicht mehr explizit erwähnt. Im Falle des Inkrafttretens des CTBT wäre genau dieses Element besonders gut geeignet, um dem Verdacht einer Verletzung des Null-Sprengkraft-Standards oder verdeckter Vertragsverletzungen wirksam nachzugehen.
Hier könnte sich auch ein Hinweis auf die Motivlage für Ashleys Anschuldigung verstecken. Mittelfristig können seine Vorwürfe als Begründung dafür dienen, dass Washington das Testmoratorium aufkündigt, seine Unterschrift unter den CTBT zurückzieht und damit den Weg freimacht, um selbst wieder Atomwaffen testen zu können. Befürworter eines solchen Schritts gibt es in der Trump-Administration und bei den Republikanern, die eine Ratifizierung des CTBT seit jeher ablehnen, sicher in ausreichender Zahl.
Die derzeitige US-Regierung plant selbst die Entwicklung und den Bau neuer atomarer Sprengköpfe und will sich nicht dauerhaft auf modernisierte, leistungsgesteigerte Sprengköpfe aus Zeiten des Kalten Krieges beschränkt wissen. Der im Februar 2020 vorgelegte US-Haushaltsentwurf für 2021 enthält erstmals Gelder für die Konzeption eines neuen Kernsprengkopfes für U-Boot-gestützte Langstreckenraketen, der offenbar durch das zuständige interministerielle Nuclear Weapons Council bereits gebilligt wurde. Dessen Bezeichnung als W93 signalisiert zudem, dass es sich nicht mehr um eine modernisierte Waffe, sondern zum ersten Mal nach dem Ende des Kalten Krieges um einen neu zu entwickelnden Sprengkopf handeln könnte.
Mit der Entwicklung neuer Sprengköpfe eng verkoppelt war und ist in den USA aber auch die intensive Debatte darüber, ob und wie die Zuverlässigkeit und Funktionsfähigkeit neuer Waffen vor der Indienststellung ausreichend getestet werden können, wenn der Null-Sprengkraft-Standard und die Vorgaben des CTBT zugrunde gelegt werden. So mancher hält es für unumgänglich, dass zu diesem Zweck wieder getestet werden müsste.
Dass diese Lesart zutreffen könnte, verdeutlicht auch ein Artikel von Mark Schneider. Der pensionierte, ehemals hohe Pentagon-Bedienstete arbeitet heute für das National Institute for Public Policy. Er entwickelte den Vorwurf, Russland verletze den INF-Vertrag, um die Republikaner bereits in Obamas Amtszeit gegen diesen Vertrag in Stellung zu bringen und nahm Ashleys Ausführungen beim Hudson-Institut zum Anlass, um in einem Aufsatz den CTBT angesichts vermuteter russischer Verletzungen des Null-Sprengkraft-Standards infrage zu stellen.
Sein Argument: Während Russland eine wissenschaftlich fundierte Entwicklung neuer und verbesserter Kernwaffen verfolge, hätten demokratische US-Präsidenten wissenschaftlichen Rat kontinuierlich ignoriert und verkannt, dass der Null-Sprengkraft-Standard verhindere, die eigenen Nuklearwaffen sicher, modern und effektiv zu halten.
Ashleys Vorwürfe und Schneiders Argumentation passen gut zu den Positionen Donald Trumps und seines ehemaligen Sicherheitsberaters John Bolton. Rüstungskontrolle beschränkt die Freiheit der USA, vom Recht des Stärkeren Gebrauch zu machen. Auf diesem Denkansatz beruhen die Aufkündigung des INF-Vertrages, des Atomabkommens mit dem Iran und auch Trumps neue Landminenpolitik. Es kann also nicht verwundern, dass auch der CTBT, Obamas neuer START-Vertrag oder die US-Unterschrift unter den weltweiten Waffenhandelsvertrag in dieser Administration verstärkt unter Beschuss geraten.
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