- Kultur
- Vagabunden
»Generalstreik das Leben lang!«
Zu Pfingsten 1929 forderten die Vagabunden in Stuttgart die Weltrevolution.
Was will die Bruderschaft der Vagabunden? Nichts weniger als: »die kapitalistische, ›christliche‹, kerkerbauende Gesellschaft ins Wackeln, ins Wanken, zu Fall zu bringen!« Pfingsten des Jahres 1929 scheint es einen Moment lang so, als ob die Weltrevolution ausgerechnet in Stuttgart einen neuen Anlauf nehmen will. Zumindest mag es den bis zu 600 im Freidenker-Garten auf dem Killesberg versammelten Teilnehmerinnen und Teilnehmern des »Ersten Internationalen Vagabundenkongresses« so vorgekommen sein. Wie die politische Umwälzung zu bewerkstelligen ist, scheint der eingangs zitierte Organisator Gregor Gog auch zu wissen: »Generalstreik das Leben lang! Lebenslänglicher Generalstreik!«
Die Rede des 1891 als Sohn einer Magd und eines Zimmermanns geborenen Gärtners, Schriftstellers und Matrosen gehört zu einer ganzen Reihe ebenso eindrucksvoller Text- und Bilddokumente aus der Sammlung des Dortmunder Fritz-Hüser-Instituts, die der schön und aufwendig illustrierte Band »Künstler, Kunden, Vagabunden« einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich macht.
Die programmatischen Texte, die auf dem Kongress gehalten oder 1927 bis 1931 in der von Gog geleiteten Zeitschrift »Der Kunde« (später: »Der Vagabund«) veröffentlicht werden, atmen den Geist der damaligen linken Alternativkultur. Man ist gegen Kirche, Staat oder Partei und sieht sich in der Nachfolge von Wanderpredigern wie Jesus oder Buddha als Vorboten einer künftigen kommunistischen Gemeinschaft der Liebe. »Vernichten wir das Vaterland einiger weniger Profitmacher«, schreibt der Maler Hans Tombrock, »und setzen wir an dessen Stelle dieses: die ganze Erde als unsere Heimat, als Vaterland aller, die eines guten Willens sind, aller, die sich in wahrer, brüderlicher Menschenleibe verbinden möchten, in Liebe zu allem, was da ist, in Liebe zum Leben selbst.«
Für die insgesamt 21 Ausgaben der Zeitschrift gelingt es Gog, der auch »König der Vagabunden« genannt wird, prominente Autoren wie Hermann Hesse, Oskar Maria Graf oder Erich Mühsam zu gewinnen. Die Tänzerin und Schriftstellerin Jo Mihaly gehörte zu den wenigen überzeugten »Tippelschicksen«. Antibürgerliche Strömungen in der Kunst und in der Jugend sehen im Vagabunden die Personifikation einer herbeigesehnten Freiheit, auch wenn das mit der harten Lebenswirklichkeit der überwiegenden Mehrheit der Nichtsesshaften wenig zu tun hat.
Während sich um 1900 viele abenteuerlustige Heranwachsende und Studenten ganz freiwillig zumindest eine Zeit lang dem unsteten Wanderleben verschreiben - es ist die Zeit des Wandervogels und der Lebensreformer - verhängen die Behörden zum Teil drastische Sanktionen gegen sogenannte Vagabunden, Landstreicher oder Kunden, die sich der protestantischen Arbeitsethik verweigern. Für den überwiegenden Teil der bürgerlichen Gesellschaft gelten sie als unnütze Müßiggänger. Man vertreibt sie aus den Städten, steckt sie hinter Gitter oder versucht sie mit mehr oder weniger Gewalt zu »ordentlichen Mitgliedern« der Gesellschaft zu machen. Im späten 19. Jahrhundert gibt es Überlegungen, sie in die Kolonie Deutsch-Südwestafrika zu deportieren.
Manche Forderung der lange Zeit fast vergessenen Bewegung klingt erstaunlich aktuell - so »die Nichtachtung und Nichtschützung der Grenzen«. Zu den weniger utopischen Zielsetzungen der Bruderschaft der Vagabunden gehört zum einen der Kampf gegen »ein neues Gesetz, das Zwangsarbeitsstätten auf Lebenszeit einführt«. Zum anderen will man eine selbstorganisierte Alternative zu den als bevormundend empfundenen Sozialeinrichtungen der Kirche aufbauen.
Spannungsreich ist das Verhältnis zu den Organisationen der Arbeiterbewegung. Die größte Nähe gibt es zum Anarchismus und zum Anarchosyndikalismus. Mit den Kommunisten sieht man sich im Klassenkampf gegen das Kapital verbunden, lehnt den sozialistischen Staat, wie er sich in der Sowjetunion etabliert hat, in der Regel jedoch ab. »Dem Staate«, so Tombrock, »geht es nicht um den Menschen - der Staat will die Nation. Und die Nation, das ist so ein Tier, so eine Bestie, so ein blutsaufendes, mordendes, wahnsinniges Ungeheuer, das auf Befehl auf eine andere Nation losgelassen wird - und dann ist das Krieg.«
Nach einer Reise in die Sowjetunion ändert Gog seinen politischen Kurs. Nun versucht er, die Vagabunden als eine Art Reservearmee des Proletariats im Klassenkampf zu organisieren. Viele Mitstreiter wenden sich von ihm ab. Mit dem Machtantritt des Nazifaschismus ist die kurze Zeit der Vagabunden-Bewegung beendet. Nach siebenmonatiger KZ-Haft und mit einer Wirbelsäulentuberkulose gelingt Gog am 24. Dezember 1933 die Flucht in die Schweiz. Dort wird er des Landes verwiesen und gelangt über Paris und Rotterdam schließlich auf dem Seeweg in die Sowjetunion. Er wird nie wieder vollständig genesen und stirbt am 7. Oktober 1945 in Taschkent, wo er auf dem Friedhof der Kommunisten begraben liegt.
Hanneliese Palm/Christoph Steker: Künstler, Kunden, Vagabunden. C. W. Leske, 240 S., geb., 28 €.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.