Die, nach denen kein Hahn kräht
Minoritäre Filme
Der Manierist Giuseppe Arcimboldo setzte Porträts aus gemalten Früchten und Gemüsen zusammen. Johannes Beringer, kein Manierist, setzt ein Porträt aus Filmen zusammen. Wie bei Arcimboldo eine Birne für die Nase, zwei Gürkchen für den Schnurrbart und Kirschen für die Lippen stehen können, so stehen bei dem Autor Beringer Filme, meist kurze, für eine ungebärdige Kindheit und Jugend, für eine politische Adoleszenz und für Krankheit und Tod. Das gesetzte Alter bleibt ausgespart.
Wessen Leben da porträtiert wird, bleibt offen. Von manchem Film wird er an das eigene erinnert, etwa an die Gegend, in der er aufwuchs, im »Viertel hinter dem Bahnhof«. Und wer weiß, dass Beringer zum revolutionären ersten Jahrgang der Deutschen Film- und Fernsehakademie, Westberlin, gehörte, wird sich nicht darüber wundern, dass in seinem Porträt die Phase des Aufruhrs unter anderem von »Johnson & Co. und der Feldzug gegen die Armut« (1968), der bitterbösen Fabel seines Kommilitonen Hartmut Bitomsky, vertreten wird. Beringer hält sich an die Regel des Filmkritikers Serge Daney (den er übersetzt hat), »sich nie dorthin zu versetzen, wo man nicht hingehört, und nie zu reden anstelle der anderen«. Er spricht für sich, fühlt sich seinen Filmen nicht nur geistig und geschichtlich, sondern auch sinnlich, ja körperlich verbunden. Dennoch sind die »eigenen Angelegenheiten«, die hier verhandelt werden, nicht bloß die seinen. Es sind auch die der »Infamen«, von denen Michel Foucault sprach, der Menschen, nach denen kein Hahn kräht.
Wie die Menschen, so die »minoritären« Filme. Zwar treten einige Meister des Kinos auf - Pedro Costa, Marguerite Duras, Josef von Sternberg, Danièle Huillet und Jean-Marie Straub, gleich zweimal Jean-Luc Godard -, aber mit Titeln, die kaum einer kennt. Und der Rest sind Produktionen von Außenseitern, jedoch keine Schocker, sondern leise, widerborstige Werke, die, wie der im Band gewürdigte Kritiker André Bazin sagte, eine »Nähe zum Leben und die Resonanz des Sozialen« haben.
Für die Kindheit steht unter anderem Jean-Paul Le Chanois’ »Schule des Lebens« (1949), mit dem noch schlanken Bernard Blier als antiautoritärem Lehrer. Allerdings wurde seine antiautoritäre Pädagogik der Kommunistischen Partei, die erst als Produzentin auftrat, bald zu antiautoritär. Die Unsicherheit der Jugend spiegelt sich in »Was machen wir jetzt?« (1958) von Peter Weiss, der auch (vielleicht vor allem) ein begnadeter Filmemacher war. »Together« (Zusammen; 1956) von Lorenza Mazzetti über ein tragikomisches taubstummes Paar bewegt ebenso wie ein Besuch der Dichterin Forough Farrokhzad in einer iranischen Leprakolonie, »Das Haus ist schwarz« (1962). All diese Puzzleteile setzt Johannes Beringer geduldig und genau zusammen. Es sind, um ein von ihm zitiertes Wort des Philosophen Jean Louis Schefer abzuwandeln, Filme, die auf unser Leben schauen. Und ein reiches Leben muss gehabt haben, wer von solchen Filmen angeschaut worden ist.
Johannes Beringer: Minoritäre Filme. Die eigenen Angelegenheiten. Edition Offenes Feld, 194 S., geb., mit zahlreichen, teils farbigen Abb., 23 €.
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