Die große Ratlosigkeit
Abgeordnetenhaus debattiert über die Auswirkungen von Corona auf Wirtschaft und Soziales
Wirtschaftssenatorin Ramona Pop (Grüne) sollte mit dem milliardenschweren Immobilienkonzern Signa sprechen - über sein Großprojekt von Abriss und Neubau des Kaufhauses Karstadt am Hermannplatz. Baugenehmigungen sollen nach Ablauf einer Frist automatisch erteilt werden. Solche Maßnahmen würden laut dem CDU-Abgeordneten Christian Gräff helfen, die Berliner Wirtschaft in der Coronakrise zu stützen. Das erklärt deren bau- und wirtschaftspolitische Sprecherin in der Aktuellen Stunde im Abgeordnetenhaus am Donnerstag. An die rot-rot-grüne Koalition gerichtet, sagt Gräff: »Ihre Haushaltspolitik und Investitionspolitik ist zutiefst unsolidarisch, weil sie der nächsten Generation Schulden aufgebürdet.«
»Corona und die Folgen: Mit Arbeits- und Sozialpolitik gegen die Auswirkungen der Krise«, war der Titel der Debatte, bei der viele sagten, was sie schon immer loswerden wollten.
»Dringend wiederzubeleben ist auch der Tourismus«, fordert der wirtschaftspolitische Sprecher der AfD-Fraktion, Christian Buchholz. Wie das konkret angesichts von Abstandsregeln, Reisebeschränkungen und einer weltweiten Wirtschaftskrise gelingen soll, dazu äußert er sich nicht. Vielleicht mit der Fußball-Bundesliga. »Selbst zu einem Viertel volle Stadien mit Abstands- und Hygieneregeln sichern Arbeitsplätze«, erklärt er. Überhaupt sei es nur zum Abwürgen der Wirtschaft gekommen, »weil Pandemiepläne nicht in konkrete Vorbereitungen umgesetzt wurden«.
AfD-Fraktionskollege Herbert Mohr bezeichnet die Bemühungen von Rot-Rot-Grün, über geplante Investitionen und Unterstützungen in Milliardenhöhe den Schaden für die Hauptstadt abzumildern, als »ungebremste Geldverschwendungspolitik«. Weitere Soforthilfepakte, zum Beispiel für Unternehmen, seien nicht finanzierbar, erklärt er. Wie üblich wird gefordert, die »staatliche Förderung von sinnlosen Ideologieprojekten« abzuwickeln.
Die Arbeitslosenzahlen steigen dramatisch. Laut Agentur für Arbeit waren im Mai knapp über 200 000 Hauptstädter arbeitslos - rund 47 000 mehr als vor einem Jahr und etwa 18 000 mehr als noch im April.
»Wir werden nicht in die Krise hineinsparen. Wir wollen eine solidarische, weltoffene, gastfreundliche Stadt bleiben, in der niemand in der Krise zurückgelassen wird«, hatte zum Debattenauftakt Katina Schubert gesagt. Das beweist Rot-Rot-Grün mit dem ebenfalls am Donnerstag beschlossenen Nachtragshaushalt 2020, der bis zu sechs Milliarden Euro neue Schulden erlaubt. Mit »Leave no one behind« - niemanden zurücklassen -, übernimmt die Linke-Landesvorsitzende und arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Fraktion das Motto der Kampagne für die Evakuierung der überfüllten griechischen Flüchtlingslager. »Es kann nicht um Steuersenkungen gehen, sondern darum, die Vermögenden an den Kosten der Krise beteiligen«, sagt Schubert. Für die Sozialistin ist ausgemacht, dass die nötige Unterstützung zum Beispiel im Tourismusbereich nicht bedingungslos gewährt werden darf. »Gute Arbeit« gelte es zu fördern, sowohl in Berlin, als auch auf Bundesebene, so Schubert. Und man müsse die drohende Welle struktureller Arbeitslosigkeit im Blick behalten. »Reiseunternehmen, Businessverkehr - Da werden sich richtige strukturelle Änderungen ergeben«, sagt die Politikerin. Denn Videokonferenzen könnten so manche Dienstreise dauerhaft überflüssig machen.
»Gerade im Tourismusbereich offenbart sich die Krise besonders«, sagt Stefan Ziller, Sprecher für Armutsbekämpfung der Grünen-Fraktion. Fachkräfte dort verdienten in der Regel nicht mehr als 2000 Euro brutto, wenn sie in Vollzeit arbeiten. Er fordert vom Bund, das Kurzarbeitergeld zumindest bis zum Erreichen des Mindestlohns aufzustocken. Noch härter treffe es Minijobber, für die es überhaupt kein staatliches Auffangnetz gebe. Außer eben Hartz IV.
»Die Auswirkungen sind nicht absehbar. Es ist kein Manko, mal offen und ehrlich zu sagen: Wir haben in einer neuen Situation nicht auf alles Antworten«, sagt Arbeits- und Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke). Und drückt die Hoffnung aus, das möglichst gemeinsam um gute Lösungen gerungen werde. Breitenbach würde die Zeit, die Menschen nun in Kurzarbeit verbringen müssen, gerne für deren Weiterqualifizierung nutzen. Aber: »Wer von 60 oder 67 Prozent seines Einkommens leben muss, hat wahrscheinlich andere Fragen und andere Dinge zu regeln«, vermutet sie angesichts des niedrigen Lohnniveaus in der Hauptstadt. Mit der viel zu späten Aufstockung habe der Bund eine Chance vertan.
»Wie bringen wir Menschen unter?«, nennt Breitenbach eine weitere Debatte. Dabei gehe es nicht nur um Obdachlose und Geflüchtete, sondern um viele weitere Gruppen wie Senioren oder Jugendliche, die sich Räume mit anderen teilen müssen. Ein Punkt, den auch Grünen-Politiker Ziller thematisiert.
Ein weiteres großes Sorgenkind sind die Ausbildungsplätze. Schon jetzt wisse man, dass 2500 weggefallen sind. Breitenbach warte auf genauere Informationen von Unternehmensverbänden und Kammern über die Lage in den einzelnen Branchen, um adäquat reagieren zu können. »Diese Informationen brauchen wir und ich hoffe, sie kommen bald«, sagt die Senatorin und bringt eine Ausbildungsplatzumlage für jene 89 Prozent der Unternehmen ins Spiel, die nicht ausbilden. »In der Baubranche gibt es seit Jahrzehnten so ein Modell. Das knutet nicht die Unternehmen, das ist nicht der Sozialismus«, erklärt sie.
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