Umsonst Lebenszeit verfahren
IG BAU fordert Entschädigung für Wegzeiten / Baubeschäftigte verbringen viel unbezahlte Zeit auf Arbeitswegen
Tarifverhandlungen »ohne Ergebnis vertagt« - das hatten die Industriegewerkschaft Bauen, Agrar, Umwelt (IG BAU) und die beiden Arbeitgeberverbände ZDB und HDB nach Ende der zweiten Verhandlungsrunde für die rund 880 000 Beschäftigten im Baugewerbe bekanntgegeben. Die IG BAU fordert 6,8 Prozent mehr Geld im Monat und eine Erhöhung der Ausbildungsvergütungen. Überdies will die Gewerkschaft einen Tarifvertrag zur Entschädigung für die Zeiten und Distanzen durchsetzen, die die Beschäftigte täglich zwischen ihrem Wohn- und Arbeitsort zurücklegen.
Baubeschäftigte legen im Durchschnitt 64 Kilometer täglich von ihrem Wohnort oder der Sammelstelle zum tatsächlichen Arbeitsort zurück. Das hat das Pestel-Institut mit einer Befragung unter mehreren tausend Gewerkschaftsmitgliedern im Auftrag der IG BAU herausgefunden. Am Freitag stellte Institutsleiter Matthias Günther die Ergebnisse vor. Während laut Mikrozensus von 2016 nur fünf Prozent aller Pendler*innen täglich über 50 Kilometer zurücklegen, sind es im Baugewerbe 38,7 Prozent. Im Schnitt brauchen die Beschäftigten für die einfache Fahrt zum Arbeitsort 54 Minuten. Knapp die Hälfte braucht für die letzte Wegstrecke zum Arbeitsort länger als eine Dreiviertelstunde.
Wer weniger verdient, nutzt eher Bus und Bahn, wer am meisten verdient, nutzt den Dienstwagen und legt damit mehr Kilometer in kürzerer Zeit zurück. »Das kann daran liegen, dass die Dienstwagen in der Regel moderner und schneller sind und die Kolleginnen und Kollegen auf der Autobahn fahren«, sagte Günther.
Aus Gewerkschaftssicht zu wenige 9,3 Prozent der Beschäftigten bekommen den Weg von der eigenen Wohnung zur Baustelle bezahlt, bei der Fahrt von einer gestellten Unterkunft zur Baustelle sind es 9,5 Prozent. Die Fahrt von der eigenen Wohnung zur Sammelstelle bekommen nur 4,6 Prozent bezahlt.
»Die Wegezeit ist etwas, das unsere Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben seit Jahren beschäftigt«, sagte IG BAU-Vorstandsmitglied Carsten Burckhardt. Es gehe um eine Menge Lebenszeit, die für die viele Fahrerei draufgehe. Mit dem geforderten Tarifvertrag sollen die Beschäftigten die Wahl haben zwischen einer Entschädigung in Geld oder in Zeit.
Es gehe auch darum, die Ungleichbehandlung von mobil und stationär Beschäftigten auszugleichen, sagte Burckhardt. Während die einen sich oft aussuchen könnten, wie weit der Wohnort vom Arbeitsplatz entfernt liegen soll, können Baubeschäftigte das nicht. »Mal ist die Baustelle um die Ecke, und mal liegt sie 200 Kilometer entfernt«, so Burckhardt. Denkbar wäre eine Lösung, die Entschädigungspauschalen ab 17 Kilometer aufwärts beinhaltet. Könnte heißen: 17 bis 35 Kilometer als erste Stufe, von 36 bis 70 und dann von 70 bis 100 Kilometer. Ab Kilometer null eine Entschädigung zu verlangen, würde wieder die Beschäftigten benachteiligen, die jeden Tag zum gleichen Ort pendeln und dafür nichts bekommen.
Die Gespräche gestalten sich schwierig, denn die IG BAU, ZDB und HDB schätzen die Ausgangslage in der Branche naturgemäß unterschiedlich ein. Die Gewerkschaft begründet ihre Forderung nach 6,8 mehr Geld damit, dass es der Baubranche gut gehe und die Auftragsbücher voll seien. Überdies sei mit neuen Aufträgen der öffentlichen Hand oder der Bahn zu rechnen. Die Arbeitgeber hingegen befürchten wegen der Krise deutliche Einbußen. »Wir können die Entwicklung in unserer Branche kaum vorhersehen«, hatte HDB-Vizepräsidentin Jutta Beeske am Ende der ersten Verhandlungsrunde Mitte Mai gesagt.
Deshalb kann sich die IG BAU vorstellen, den Tarifabschluss variabel zu gestalten: Die Hälfte der vereinbarten Steigerung gibt es jetzt, und am Jahresende wird evaluiert, wie es der Branche geht und gemeinsam entschieden, ob es die zweite Hälfte gibt oder Geld in die Beschäftigungssicherung und die Aufstockung des Kurzarbeitergeldes gesteckt werden muss.
Die Arbeitgeber kennen die Probleme mit der Wegezeit. Unklar ist, ob sie darüber verhandeln wollen. Warum? »Weil es Geld kostet«, so Burckhardt. Die dritte und bisher letzte Verhandlungsrunde ist für den 25. Juni angesetzt. Wenn die auch ergebnislos verläuft, rufen die Verhandelnden die Schlichtung an. Es sei aber auch denkbar, einen vierten Termin zu vereinbaren, »wenn wir sehen, dass ernsthaft verhandelt wird«. Danach sieht es aus Sicht der IG BAU aber derzeit noch nicht aus. In einer Mitteilung nach der dritten Runde hieß es, der Eindruck verfestige sich, dass die Arbeitgeber die Verhandlungen »künstlich in die Länge ziehen wollen«.
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