In Chile sprechen wieder die Töpfe

Binnen weniger Monate rollt nun die zweite Welle des Protests - jetzt gegen den Hunger in der Coronakrise

  • Sophia Boddenberg, Santiago de Chile
  • Lesedauer: 8 Min.

Hunderte Menschen schlagen mit Holzlöffeln auf leere Kochtöpfe und Pfannen. »Cacerolazo« heißt diese Protestform. Ende vergangenen Jahres sorgte dieser Protest in Chile für weltweite Schlagzeilen, als Zehntausende ihre Wut lautstark zu Gehör brachten und am Ende einen Teil ihrer Forderungen gegenüber der Regierung durchsetzen konnten. Cacerolazo hat eine lange Tradition in Chile, genauso wie die leeren Töpfe in den Küchen der Häuser am Stadtrand Santiagos in den sogenannten »poblaciones«, den dicht besiedelten Armen- und Arbeiter*innenvierteln. Es sind die Viertel, die nicht auf den Postkarten der Hauptstadt mit modernen Glashochhäusern erscheinen.

Hier leben durchschnittlich über zehn Personen auf 30 Quadratmetern in Häusern aus Brettern und Wellblech mit undichten Fenstern. Hier kämpfen viele Menschen täglich ums Überleben. Vor der Coronapandemie haben sie als Hausangestellte oder ohne Arbeitsvertrag auf dem Bau gearbeitet oder an einer Straßenecke Sopaipillas (frittierte Kürbisbrötchen) verkauft. Jetzt verkaufen sie selbst genähte Atemschutzmasken oder auf dem Flohmarkt ihr letztes Hab und Gut.

Die gesamte Hauptstadt steht seit drei Wochen unter Quarantäne, Polizei und Militär kontrollieren die Einhaltung des Ausgangsverbots. Nur für lebensnotwendige Tätigkeiten wie Einkaufen oder Arztbesuche darf man vor die Tür. »Quédate en casa«, bleib zu Hause, steht auf den Anzeigen der öffentlichen Busse. Aber wer sich jeden Tag darum sorgen muss, dass eine Mahlzeit auf den Tisch kommt, kann nicht einfach zu Hause bleiben.

»Wenn uns nicht das Virus tötet, tötet uns der Hunger«, steht auf einem der Plakate der Demonstrant*innen in der Gemeinde El Bosque am südlichen Stadtrand von Santiago. »Das Problem ist nicht die Quarantäne, sondern die Abwesenheit des Staats, der sich nicht um sein Volk kümmert«, sagt einer der Protestierenden. Die Kochtöpfe und Pfannen der meisten Leute hier sind ausgebeult vom stundenlangen Schlagen. Wenig später trifft die Polizei ein. Mit Wasserwerfern und Tränengas treibt sie die Menschen auseinander, die in alle Richtungen rennen.

Der 28-jährige Gonzálo Carpintero flieht mit seinem Fahrrad. Er ist arbeitslos und lebt zusammen mit seiner Mutter, seiner Schwester und deren zwei Kindern. Seine Schwester ist krank und sollte eigentlich operiert werden, aber ihre Operation wurde verschoben, da die Krankenhäuser mit Covid-19-Patienten überfüllt sind. »Es gab auch schon vorher Familien mit geringen Einkommen, aber mit der Pandemie ist es noch schlimmer geworden. Anstelle von Unterstützung schickt die Regierung Repression«, sagt Carpintero. »Die Leute gehen auf die Straße mit einem Kochtopf und sofort kommen Polizei und Militär. Aber wenn wir nicht protestieren, dann reagieren die Politiker nicht. Sie machen nur Gesetze, um sich selbst zu beschützen, Gewinne zu machen und uns zu unterdrücken. Sie machen alles für sich, nicht für das Volk.«

Gut 140 000 Coronafälle gibt es Anfang Juni in Chile, die Zahl der täglichen Neuinfektionen liegt bei über 6000, 90 Prozent davon geschehen in der Hauptstadt. Über 2000 Todesfälle zählt die Regierung, viele glauben aber, dass die Zahl noch höher liegt. Die Gemeinden, in denen sich das Coronavirus am schnellsten ausbreitet, sind die Armen- und Arbeiter*innenviertel am Stadtrand wie El Bosque, San Bernardo, Puente Alto und La Pintana.

Fabián Araneda arbeitet in der öffentlichen Gesundheitsversorgung in La Pintana und ist Mitglied der Gewerkschaft. »Das öffentliche Gesundheitssystem befand sich schon vor dem Coronavirus in einer Krise, jetzt steht es kurz vor dem Zusammenbruch. Es wird von den Arbeitern und Arbeiterinnen aufrechterhalten, die unter extrem prekären Bedingungen arbeiten«, sagt er. Araneda kritisiert die Statistiken des Gesundheitsministeriums: »Es gibt viel mehr Covid-19-Tote. Viele Fälle werden nicht offiziell registriert.«

Die Arbeitsbedingungen in der öffentlichen Gesundheitsversorgung sind prekär, es fehlt an medizinischen Mitteln und Personal. Eine Kollegin von Araneda ist an Covid-19 erkrankt, und sie ist nicht die Einzige. Ende Mai hatten sich bereits 6840 Mitarbeiter der Krankenhäuser infiziert. Grund ist eine schlechte Ausstattung des Personals mit Schutzmitteln. »Für die Regierung ist die Wirtschaft wichtiger als die Gesundheit und das Leben der Menschen. Wir brauchen Maßnahmen, damit die Menschen die Quarantäne in Würde einhalten können«, sagt Araneda.

Ein paar Tage nach dem Protest trifft sich Gonzálo Carpintero mit seinem Freund Leonardo Troncoso. Sie sind Nachbarn und seit ihrer Kindheit befreundet. Nach dem ersten Aufstand am 18. Oktober 2019 protestierten sie fast täglich gemeinsam in der Nähe der Plaza de la Dignidad (Platz der Würde), wie der Plaza Baquedano seitdem genannt wird in der »primera línea«.

Die »primera línea« ist jene Gruppe der Demonstrant*innen, die in der »ersten Reihe« gegen die Polizei kämpft, damit diese nicht den Platz räumt und den Protest auflöst. Carpintero eröffnete einen Instagram-Account mit dem Namen »El Boske Resiste«, um die Menschen über die Protestbewegung zu informieren und die Polizeigewalt und Menschenrechtsverletzungen öffentlich zu machen. Jetzt sammelt er über den Account Spenden, um Lebensmittel für Familien zu kaufen, die nicht genug zu essen haben. »Wir haben uns verpflichtet gefühlt, aktiv zu werden und zu helfen. Darum geht es auch bei unserer Bewegung. Es ist eine solidarische Bewegung.«

Die Proteste im Oktober entzündeten sich an einer Erhöhung der U-Bahn-Fahrpreise in Santiago, richteten sich aber vor allem gegen die soziale Ungleichheit im Land und das neoliberale Wirtschaftssystem, das Privatisierungen vorangetrieben und den Staat verkleinert hat. Festgeschrieben ist dieses Wirtschaftssystem in der Verfassung, die aus den Zeiten der Pinochet-Diktatur stammt. Die Protestbewegung hat ein Verfassungsreferendum erkämpft, das eigentlich im April stattfinden sollte, wegen der Corona-Pandemie aber auf Oktober verschoben wurde.

»Jetzt gibt es eine zweite Protestwelle wegen des Hungers«, sagt Carpintero. »Aber letztendlich geht es um das Gleiche. Armut und Hunger gab es auch schon vorher, aber sie wurden versteckt«, sagt er. »In Chile wird immer von Entwicklung geredet, aber schau dich doch mal um. In den Reichenvierteln ist alles schön, da ist es wie in einem anderen Land. Aber hier gibt es keine Hochhäuser aus Glas, keine Büros. Hier leben die Menschen, die diese Hochhäuser bauen und die den Unternehmern das Geld erarbeiten.«

Carpintero und Troncoso kaufen heute in einem Großmarkt Lebensmittel ein. Mit jenem Geld, das sie nach dem Spendenaufruf gesammelt haben. Sie kaufen Linsen, Bohnen, Nudeln und Reis. Kleine Geschäfte aus der Nachbarschaft bringen ihnen zusätzlich Sachspenden. Eine Apotheke hat zum Beispiel Masken und Desinfektionsmittel gespendet. Damit packen die beiden jungen Männer Kisten, die sie zu Familien in der Nachbarschaft bringen. Einen Teil bringen sie auch zu den »ollas comunes«, den gemeinschaftlichen Suppenküchen.

Präsident Sebastián Piñera hat zwar 2,5 Millionen Hilfspakete mit Lebensmitteln angekündigt sowie eine Notfallzahlung von durchschnittlich 100 Euro pro Haushalt, aber nur für die ärmsten 40 Prozent der Bevölkerung und bei Lebenshaltungskosten, die denen in Europa ähneln. Ob man zu diesem Teil der Bevölkerung gehört, dokumentiert der »Registro Social de Hogares«. Aber viele, die erst vor Kurzem ihre Arbeit verloren haben, sind dort nicht registriert. Die Sozialämter sind entweder geschlossen oder es gibt lange Schlangen, in denen man riskiert, sich mit dem Virus anzustecken.

Die »ollas comunes« haben ebenfalls eine lange Tradition in Chile. Ihren Ursprung haben sie in der Weltwirtschaftskrise 1929, als viele Bergbauarbeiter*innen ihre Arbeit verloren. Auch in den 1980er Jahren, während der Pinochet-Diktatur, kochten die Bewohner der »poblaciones« für die Armen und Arbeiter*innen.

Die beiden jungen Männer fahren zu einer »olla común« in der Población El Olivo in San Bernardo, einem Stadtviertel gleich neben El Bosque, wo Carpintero wohnt. Die Schwestern Constanza und Caren Ponce haben heute in einem riesigen Topf Linsen für etwa 60 Personen gekocht. Normalerweise würden sie sich auf die Straße stellen, um das Essen zu verteilen. Aber in Zeiten von Corona füllen sie im Haus die Portionen in Behälter ab und bringen sie anschließend zu Obdachlosen oder Familien nach Hause. »Die Leute kommen das Essen nicht hier abholen, einerseits, damit es keine Menschenansammlungen gibt, und andererseits, damit die Polizisten uns nicht den Topf umtreten, wie es in anderen Vierteln passiert ist«, sagt Caren Ponce.

»Wir wiederholen eine Aktion, die Frauen seit vielen Jahren praktizieren. Die olla común hat ihre Ursache in der Armut, im Hunger. Es gibt sie seit vielen Jahren und bis heute, weil sich nichts verändert hat. Die ollas comunes kommen aus der Bevölkerung und sind für die Bevölkerung. Wir sind keine Reichen, die Armen helfen«, sagt ihre Schwester. Die meisten Spenden stammen von Nachbarn aus der Umgebung, Freunden und Familie. Viele seien bereit zu helfen. Die Schwestern sammeln auch Kleidung, Schuhe, Bettwäsche und Decken, denn in Chile bricht gerade der Winter an.

»Es ist traurig, dass erst jetzt ans Licht kommt, dass wir in Armut leben, dass wir Hunger haben, dass uns kalt ist«, sagt Caren Ponce. »Die Regierung will das verstecken. Das war schon immer so in unserer Geschichte. Das macht uns wütend und motiviert uns zu diesen Aktionen, damit sich etwas ändert. Damit die Mächtigen uns nicht mehr unsichtbar machen.« Hilfe vom Staat erhalten sie keine. »Die Hilfspakete, die sie im Fernsehen zeigen, sind hier nicht angekommen. Wir helfen uns als Nachbarn«, sagt Constanza Ponce. Caren fügt hinzu: »Das Volk hilft dem Volk.«

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