Wunsch nach Normalität
Schule könnte bald wieder im Regelbetrieb laufen - dafür braucht es aber neue Konzepte
Der Shutdown im März kam plötzlich. Die Schulen waren darauf keinesfalls vorbereitet. Die Eltern auch nicht, das hat Muna Nasser von den Berliner Schülerpaten gemerkt. Der Verein vermittelt Kindern und Jugendlichen ehrenamtliche Patenschaften, die bei den Hausaufgaben helfen. »Die Eltern waren mit dem Homeschooling oft überfordert«, erzählt sie über die Familien, die sie betreut. Überwiegend kommen sie aus dem arabischen Kulturkreis. »Die Eltern haben oft nur wenig Zeit, und die Lehrer verlangen von den Familien viel«, sagt sie. »Wenn die Schüler über ihren Hausaufgaben sitzen, dann sind oft noch Geschwister im Raum, und es fehlt die Ruhe zum Arbeiten.« Diese Beobachtung hat sie nicht alleine gemacht. Und sie gilt nicht nur für bildungsferne Familien.
Auch bei der Berliner Initiative Kitakrise liegen die Nerven blank. »Wir Eltern haben in den letzten drei Monaten alles gegeben, um neben Arbeit auch Homeschooling und die Betreuung unserer Kinder zu gewährleisten«, teilte die Initiative am Montag mit. »Diese Situation kann so nicht mehr weitergehen.« Den Senat fordert sie auf, nach »tragfähigen Lösungen« zu suchen.
Die Situation in den Schulen ist in allen Bundesländern zwar im Detail unterschiedlich, doch in der Tendenz ähnlich: Die Schüler erhalten zumeist nur tageweise Präsenzunterricht, und die Schulbehörden suchen nach Möglichkeiten, um den Unterricht auszuweiten. Nordrhein-Westfalen will ab dem 15. Juni für alle Grundschüler täglichen Unterricht anbieten, Hessen folgt in der Woche darauf. In Berlin kündigte Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) unlängst an, nach den Sommerferien in den Regelbetrieb überzugehen, was nicht unumstritten ist. Die Vereinigung der Berliner Schulleiter in der GEW bemängelt, dass der Senat keinen Plan B ausgearbeitet habe. Falls es viele Neuinfektionen geben sollte, gebe es keinerlei Vorkehrungen, kritisiert die Vorsitzende Gunilla Neukirchen. Scheeres widersprach dem am Mittwoch.
Aus wissenschaftlicher Sicht sei es wünschenswert, dass die Schüler wieder regelmäßigen Unterricht bekommen, erklärt der Soziologe Aladin El-Mafaalani. Denn die »Ungleichheit zwischen den Kindern und Jugendlichen wächst, wenn Schule nicht stattfindet. Diese Erkenntnisse gibt es aus Untersuchungen über die Auswirkungen der Sommerferien.« Der Sozialwissenschaftler befürchtet, dass die Auswirkungen des Lockdowns verheerend sein werden und die Chancengleichheit in den vergangenen drei Monaten erheblich gelitten hat. Auch El-Mafaalani plädiert für eine Rückkehr zu normalen Klassenverbänden im kommenden Schuljahr.
Derzeit würden die Coronafallzahlen dies zulassen. Täglich schrumpft die Zahl der Erkrankten. Am Mittwoch waren in Deutschland 5398 Menschen am Virus erkrankt. Aber die Angst vor einem Wiederanstieg der Fallzahlen ist unverändert groß.
Die Kultusminister haben sich dennoch darauf verständigt, nach den Sommerferien einen Neustart im Regelbetrieb zu wagen. Voraussetzung dafür ist allerdings eine Lockerung der Hygienekonzepte. »Für uns ist es wichtig, von dieser Abstandsregel wegzukommen«, sagt Stefanie Hubig, Bildungsministerin von Rheinland-Pfalz und Vorsitzende der Kultusministerkonferenz.
Wie die pädagogischen Konzepte für das neue Schuljahr aussehen können, sei noch völlig unklar, meint dagegen der Soziologe El-Mafaalani. Ein Vierteljahr sei schließlich verloren gegangen, weil das improvisierte Homeschooling den Unterricht nicht habe ersetzen können. Den Stoff nun komplett nachzuholen, sei unbefriedigend. Einfach weitermachen, als wäre nichts gewesen, aber auch. »Es gibt keine optimale Lösung«, findet El-Mafaalani. »Und doch müssen wir einen Weg aus dem Krisenmodus finden.«
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