Erst der Profit, dann die Sorge

Großunternehmen entziehen sich der Verantwortung für Hungerlöhne und Kinderarbeit bei ihren Zulieferern vor Ort

Sie schleppen schwere Lasten, oft viele Stunden am Tag, sie benutzen Macheten und anderes gefährliches Werkzeug, sind Pestiziden schutzlos ausgesetzt: Nach Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) müssen rund 152 Millionen Kinder im Alter zwischen 5 und 17 Jahren Tätigkeiten verrichten, die nach ihren Kriterien als Kinderarbeit gelten. Die meisten von ihnen, rund 60 Prozent, sind in der Landwirtschaft eingesetzt.

Indirekt arbeiten diese Kinder oft für internationale Unternehmen, die ihre Produkte in Deutschland oder anderen Industrienationen verkaufen. Entwicklungs- und Menschenrechtsorganisationen, Gewerkschaften und Kirchen fordern daher ein Lieferkettengesetz, das Unternehmen auf menschenrechtliche Sorgfalt für ihre Zulieferer vor Ort verpflichtet. »Das bedeutet: Unternehmen müssen die Zustände bei ihren Lieferanten überprüfen und wirksame Maßnahmen ergreifen, wenn diese Menschenrechte verletzen oder die Umwelt zerstören«, erklärt Maren Leifker, Referentin für Wirtschaft und Menschenrechte bei Brot für die Welt. Die Entwicklungsorganisation unterstützt die Initiative für ein Lieferkettengesetz, in der sich fast 100 Organisationen zusammengeschlossen haben. Auch Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) sprechen sich für ein solches Gesetz aus.

Als Hauptursache für Kinderarbeit gilt Armut. Kakaobauern in Westafrika etwa verdienen so wenig, dass sie sich keine Erntehelfer leisten können und deshalb ihre Kinder mitarbeiten müssen. »Existenzsichernde Löhne gehören zur Achtung der Menschenrechte«, sagt Leifker. »Menschenrechtliche Sorgfalt von Unternehmen im Sinne der Leitprinzipien der UN von 2011 beginnt daher schon bei der Vertragsgestaltung und bei Preisen, die Familien ein Auskommen ohne Kinderarbeit sichern.«

Wirtschaftsverbände verhindern seit Jahren eine verbindliche gesetzliche Regelung. Stattdessen setzt die Bundesregierung in ihrem Nationalen Aktionsplan Wirtschaft und Menschenrechte zuerst auf freiwillige Maßnahmen. Erst wenn die nicht ausreichen, soll die Bundesregierung gesetzlich tätig werden, so ist es im Koalitionsvertrag vereinbart.

Seit 2018 wird das menschenrechtliche Engagement von deutschen Großunternehmen evaluiert. Diese müssen Unternehmensprozesse nachweisen, die auf soziale und ökologische Standards bei ihren Zulieferern einwirken. Ein Zwischenbericht im Februar bestätigte die Kritik aus der Zivilgesellschaft. »Trotz der niedrigen Anforderungen der Überprüfung konnten weniger als 20 Prozent der teilnehmenden Unternehmen belegen, dass sie ein Mindestmaß an menschenrechtlicher Sorgfalt einhalten«, sagt Leifker. Das Ministerduo Heil und Müller kündigte daraufhin im März die Vorlage eines Lieferkettengesetzes an, wurde jedoch von Bundeskanzleramt und Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) gestoppt. Man müsse die endgültige Auswertung des Monitoringprozesses abwarten, hieß es.

Ende Mai lief die zweite Befragungsrunde von Unternehmen aus. Die Ergebnisse sollen dem Kabinett am 15. Juli vorgestellt werden. Schon jetzt sei jedoch erkennbar, so der Entwicklungsminister bei einer Regierungsbefragung im Bundestag, dass der Versuch einer freiwilligen Selbstverpflichtung gescheitert sei. Müller bekräftigte daher seinen Vorsatz, in diesem Falle ein Gesetz gegen Dumping und Ausbeutung in globalen Lieferketten vorzulegen.

Dennoch wächst auf Menschenrechtsseite die Skepsis, ob das in dieser Legislatur tatsächlich noch passiert. Oder das Gesetz würde inhaltlich so verwässert, dass es auf dasselbe hinausliefe. Denn die Gegner der Initiative nutzen die Coronakrisenzeit. Angesichts der großen Belastungen durch die Pandemie, so klagen Unternehmensverbände nun, dürfe die Wirtschaft nicht noch zusätzlich mit Auflagen belastet werden. »Der letzte Strohhalm«, so sieht es Maren Leifker von Brot für die Welt. »Das Lieferkettengesetz muss kommen - nicht trotz, sondern wegen Corona.« Denn die Krise habe deutlich gemacht, wie fragil die Lieferketten sind. »Die Menschen in den Textilfabriken standen von einem Tag auf den anderen ohne Auskommen da, weil große europäische Modekonzerne massiv Aufträge storniert haben.«

Das hält auch EU-Justizkommissar Didier Reynders für unverantwortlich und kündigte einen Aufschlag für ein europäisches Lieferkettengesetz im kommenden Jahr an. Leifker hält eine europäische Regelung für sinnvoll. »Je mehr Unternehmen erfasst sind, umso wirkungsvoller.« Das mache ein Lieferkettengesetz auf deutscher Ebene jedoch nicht überflüssig, betont sie. Denn schon werden Stimmen laut, die auf ein europaweit abgestimmtes Vorgehen pochen. Abwarten ist für die Menschenrechtsexpertin keine Option: Jeder wisse, wie lange Prozesse auf europäischer Ebene dauern, sagt Leifker. »Aber es würde den Prozess sicher beschleunigen, wenn Länder wie Deutschland voranschreiten.«

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