Wachstum oder Kreislauf

Nach der Coronakrise weiter wie früher? Nicht nur Umweltexperten sehen Notwendigkeit für grundlegende Veränderungen

  • Manfred Ronzheimer
  • Lesedauer: 5 Min.

In der ersten Phase der Coronakrise waren Virologen und Mediziner die wichtigsten wissenschaftlichen Berater, denen die Politik Gehör schenkte, um ihre folgenschweren Maßnahmen abzuwägen. Jetzt, wo es zentral um die Bekämpfung der Wirtschaftskrise nach dem Lockdown geht, melden sich auch Experten anderer Fachdisziplinen zu Wort. Von Bedeutung ist dabei, ob das Hochfahren der Wirtschaft, aber auch des Bildungssektors, wieder an die früheren Abläufe vor Corona anschließt, oder ob neue Wege beschritten werden.

In Reaktion auf das 130 Milliarden Euro schwere Konjunktur- und Zukunftspaket der Bundesregierung hat das Hightech-Forum in dieser Woche innovationspolitische Leitlinien vorgelegt, deren Befolgung zu einem »neuen Wachstum« führen soll. Das Hightech-Forum ist ein Kreis von 20 Wissenschaftlern und Unternehmern, der das Bundesforschungs- und das Wirtschaftsministerium bei der Gestaltung ihrer Innovationspolitik berät. Ziel ist die bessere und schnellere Umsetzung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse in die wirtschaftliche Praxis.

Coronakrise zeigt auch strukturelle Schwächen

Für Reimund Neugebauer, Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft und Co-Vorsitzender des Hightech-Forums besteht die »historische Chance, mit den Paketen für die Krisenbewältigung eine grundlegende Transformation in Richtung eines neuen und qualitativen Wachstums anzustoßen«. Mit rund 50 Milliarden Euro wird fast die Hälfte des Gesamtpakets in den Jahren 2020 und 2021 in Forschung und Innovation investiert, darunter in Künstliche Intelligenz, Quantencomputing und grüne Wasserstofftechnologie.

»Die Krise hat gezeigt, wie Deutschland durch Investitionen in Forschung und Infrastrukturen, zum Beispiel die Gesundheitsversorgung, seine Bürgerinnen und Bürger schützen kann«, heißt es in dem Leitlinien-Papier. Sie habe aber auch »strukturelle Schwächen und Vulnerabilitäten schonungslos aufgedeckt«. Da auch in Zukunft vergleichbare Großkrisen nicht ausgeschlossen werden können, sei es ausgelöst durch ein biologisches oder ein Computer-Virus, gelte es, sich zu wappnen. Dies betreffe nicht nur technische Sicherheit und Resilienz, bis hin zu stärkerer Orientierung auf eine »technologische Souveränität« in nationalem und europäischen Maßstab, sondern auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

So wurden nach Auffassung des Hightech-Forums im verordneten Corona-Shutdown »soziale Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten deutlich«. Frauen trügen die Hauptlast der Familienarbeit in der Krise, und viele »systemrelevante Berufsgruppen« litten unter schlechten Arbeitsbedingungen und geringer Entlohnung, stellt das Papier fest. »Für das Gemeinwohl und die Entwicklung der Gesellschaft essenzielle Bereiche wie Kinderbetreuung, (Hoch-)Schule, Altenpflege oder die Kultur- und Kreativwirtschaft sind für Krisen nicht ausreichend gerüstet.«

Aus diesem Grund sollte nach der Krise »die Chance ergriffen werden, das Konzept der sozialen Marktwirtschaft auf Basis der Krisenerfahrungen neu zu denken«. Es würden »Innovationen für moderne Arbeitszeit-, Entlohnungs- und Führungsmodelle« benötigt. Auch andere Elemente des Konzepts, wie mehr digitale Bildung, stärke Innovationsförderung oder verlässliche Rahmenbedingungen für ein nachhaltiges Wirtschaften, wollen in der Summe dazu beitragen, ein »neues Wachstum« zu stimulieren. »Neues Wachstum« ist der Zentralbegriff in den Leitlinien. Das Hightech-Forum versteht darunter »eine positive Entwicklung in Richtung sozialer, wirtschaftlicher und ökologischer Nachhaltigkeit«, wird erläutert. »Neues Wachstum ist qualitativ und orientiert sich an zentralen Werten der Gesellschaft. Neues Wachstum schafft Mehrwert für heutige und zukünftige Generationen.«

Ob die Fortsetzung der Wachstumsorientierung tatsächlich der richtige Weg aus der Krise ist - oder nicht vielmehr gleich in die nächste, die ökologische und Klimakrise führt, ist in der aktuellen gesellschaftlichen Debatte nicht unumstritten. Auch das Wuppertal-Institut für Klima Umwelt Energie legte in dieser Woche eine Bewertung des Konjunktur- und Zukunftspakets vor. Das Institut, das sich der »Großen Transformation« verschrieben hat, vermisste zu wenig Kursänderung, die weg vom Wachstumspfad und hin zur Kreislaufprozessen in der Wirtschaft führe.

»Obwohl das Konjunkturprogramm mit rund 60 Maßnahmen bereits sehr umfangreich ist, weist es gleichwohl deutliche Lücken auf, die es unbedingt zu schließen gilt«, urteilen die Öko-Experten aus Wuppertal. So spiele das Thema Energieeffizienz in dem Programm »erstaunlicherweise eine eher untergeordnete Rolle«. Dies ist »nicht nachvollziehbar«, da aus vielen Analysen seit langem bekannt sei, »dass gerade Investitionen in Energieeffizienzmaßnahmen mit großen positiven volkswirtschaftlichen Effekten verbunden sind«. Auch die Kreislaufwirtschaft werde im Programm nicht explizit aufgeführt. »Dies verwundert nicht nur aufgrund des grundsätzlich hohen CO2-Minderungspotenzials«, schreibt das Wuppertal-Institut.

Vielmehr habe gerade die Covid-19-Pandemie deutlich gemacht, dass generell »die Wertschöpfungs-, Produktions-, Konsum- und Wirtschaftsstrukturen robuster und weniger verletzlich« aufgestellt werden müssen. »Eine konsequente Orientierung auf eine Kreislaufwirtschaft und Bioökonomie hilft, weniger Primärressourcen einsetzen zu müssen und damit unabhängiger von globalen Lieferketten und Rohstoffen, zum Beispiel Funktionsmetallen zu werden«, betont die Studie des Wuppertal-Instituts. Diese Themen kommen aber im Aktionsprogramm der Regierung gar nicht und dem Innovationskonzept des Hightech-Forums nur am Rande vor.

Neustart muss radikaler gedacht werden

Womöglich muss beim wirtschaftlichen Neustart aus der Coronakrise noch grundlegender und radikaler als bisher gedacht werden. Das findet jedenfalls eine nennenswerte Schar deutscher Bücherleser, die seit Wochen einen Titel mit genau dieser Botschaft an der Spitze der Beststellerliste halten: »Unsere Welt neu denken« von der Berliner Autorin Maja Göpel. Das erzählende Sachbuch erschien im Februar, weshalb der Begriff Coronavirus kein einziges Mal auftaucht, und trifft gleichwohl den gesellschaftlichen Nerv der Zeit und die neue Nachdenklichkeit, die im Shutdown bei vielen Menschen Einzug gehalten hat.

Göpel, die im Hauptberuf Ökonomin ist und früher am Wuppertal-Institut gearbeitet hat, geht der Frage nach, »wie es passieren konnte, dass die Menschheit den Planeten in der Lebensspanne zweier Generationen an den Rand des Kollapses gebracht hat«. Zentraler Treiber ist in ihrer Analyse das herrschende Wachstumsmodell der Ökonomie, das eine globale »Extraktions- und Maximierungsmaschine« errichtet hat, die Natur nur noch ausbeutet statt mit ihr zu kooperieren. Wie kommen wir aus dem Wettlauf zur Zerstörung der Welt heraus? »Weiterzumachen wie bisher ist keine Option, weil es zu radikalen und wenig einladenden Konsequenzen führt«, befindet Göpel.

Ihre Einladung, die Welt neu zu denken, empfiehlt den Blick aus der Zukunft - was uns bevorstehen könnte -, geweitet um eine systemische Perspektive. An ihrer aktuellen Arbeitsstätte, dem Wissenschaftlichen Beirat für Globale Umweltveränderungen (WBGU), einem Regierungs-Thinktank wie das Hightech-Forum, wird dieses Vorausdenken schon seit Jahren praktiziert. Jetzt ist das gesellschaftliche Interesse für diese Botschaften da. Von Göpels Buch wurde bereits die sechste Auflage gedruckt.

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