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Mammutbaum
Bob Dylans neues Album »Rough and Rowdy Ways« ist das Album der Stunde
Bob Dylan ist ein alter Mann mit verstimmter Gitarre und einem bitteren Zug um den Mund. Er kann nicht wirklich singen und auch nicht so richtig Gitarre spielen. Trotzdem steckt in allen Missklängen von Bob Dylan mehr Kraft als in jedem knapp bekleideten, hüpfenden Popsternchen. Und das liegt nicht am Nobelpreis oder der Ehrenlegion. Es liegt an seiner Musik. Sie ist wie ein alter Mammutbaum mit tiefen Wurzeln und vielen verzweigten Ästen. Er hat mehr gute als schlechte Musik produziert. Über die Jahrzehnte hinweg hat er sich immer wieder neu erfunden. Folk, Rock, Country, Pop, Swing und Weihnachtslieder. Aber er war nie Ziggy Dylan oder ein Thin White Bob. Er war immer Bob Dylan.
Von seinen Verehrern wird er als Genie betrachtet. Sie studieren seine Texte, als seien sie ein Orakel. Aber vielleicht sollte man den Geniebegriff für Popmusiker (auch für Boxer oder Rennpferde) überdenken. Denn die Zeit der Genies war schon lange vor Rock’n Roll vorbei. »Genie« ist heute eher ein Ritterschlag durch Verehrer und Medien. Bob Dylan ist nicht genial. Aber viele seiner Songs.
Der »New York Times« erzählte Dylan, dass seine Lieder auf alten protestantischen Hymnen oder auf Varianten der Carter-Familiy beruhen. »Ich kann Auto fahren, mit jemandem sprechen oder einfach herumsitzen oder was auch immer, und ich höre dabei den Song in meinem Kopf.« Dylans Songs sind keine Kompositionen. Sie wachsen. Vielleicht ist es das, was sie genial macht. Sie ziehen Energie aus ihren Wurzeln und wachsen in die Gegenwart hinein und oft auch über sie hinaus. Die Songs entfalten einen komplexen Kosmos aus intellektuellen und popkulturellen Bezügen. Oder wie Greil Marcus es formulierte: Sie leuchten das alte, das unheimliche Amerika aus.
Was diese Form der Genialität betrifft, hat »Rough and Rowdy Ways« einiges zu bieten. Vielleicht ist es sogar das Album der Stunde. Denn so düster und unheimlich ging es in den USA schon lange nicht mehr zu. Das dräunende »I contain Multitudes« eröffnet das Album und setzt die Grundstimmung für alle Songs: »I’m just like Anne Frank, like Indiana Jones / And them British bad boys, The Rolling Stones / I go right to the edge / I go right to the end«, singt Dylan.
Der Song sei eine Selbstbeschreibung, erzählte er der »New York Times«. Es gehe ihm nicht um einzelne Namen, sondern darum, was deren Kombination ergebe. »Der Song ist wie ein Gemälde, wenn man zu nahe dran steht erkennt man nur Teile davon. Aber die Einzelheiten sind nur Teile eines Ganzen.« Das gilt für alle Songs der Platte. Am Ende des Albums steht das viel diskutierte Ambient-Blues-Epos »Murder Most Foul«. Dylans Meditation über den Mord an John F. Kennedy. Und sein erster Nummer-1-Hit in den USA. Ein Lied wie ein Hammer. Dylans Musik ist der Mammut-Baum der Popmusik. Alle anderen sind Plastiktopfpflanzen.
Bob Dylan: »Rough and Rowdy Ways« (Smi Col/Sony)
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