Energie gegen das Abwinken
Zum Tod des Theologen Heinrich Fink
Das Wort Gott antwortet auf eine Not. Wer von Gott spricht, erhebt etwas, das ihm fehlt, zu seinem Besitz. Was uns allen fehlt, ist die Fähigkeit, das Nichts positiv zu beantworten. Gegen das Nichts gibt es Kunst, Ideologien, Systeme. Eines davon ist Gott. Wer glaubt, nimmt eine Last aus Sehnsucht und Hoffen auf sich: Es wird. Und wer sich zur Theologie wendet, geht gar in die Artistik. Wird Illusionist höchsten Grades. Arbeitet ohne Netz, gegenstandslos, greift mit dem Wort Gott nach dem, was sich doch sofort wieder entzieht.
Muss man jetzt vom Jenseits reden und damit die heidnische Arroganz gegenüber der Religion anstacheln? Der Theologe Heinrich Fink hat Gott sehr diesseitig verstanden, als »Suche nach einem trigonometrischen Punkt, um irdische Verhältnisse vermessen zu können«. Dies sagte er an einem Sarg - bei der Beerdigung eines Dichters und Sängers. Gerhard Gundermann, Hoyerswerda 1998. Er zitierte ihn: »hier bin ich geborn/ so wie ins wasser fiel der stein/ hier hat mich mein gott verlorn/ und hier holt er mich wieder ein«.
Im Grunde bedeutet Christentum: Ein sauberes Leben geht vor reiner Lehre. Und Theologie? Ist Aufklärung als Selbstveränderung. Kants Gebot, die selbst verschuldete Unmündigkeit zu verlassen, ist kein Delegierungsprinzip. In solchem Geist hat Fink an der Berliner Humboldt-Universität studiert, beseelt von Heinrich Vogel, der Systematische Theologie lehrte und zum Motto erhoben hatte, die Atheisten »totzulieben«, eine Absage an den beidseitigen Militarismus im Kalten Krieg.
Heinrich Fink. Der Weinbauernsohn aus Bessarabien, Jahrgang 1935. Die Schafzucht des Vaters vielleicht als winziges Zeichen des Traums, dass es auf dieser Erde und im Leben lammfromm zugehe. Ein Irrglaube. Umsiedlung, Unruhe, Ungewissheit - sie endet auf zehrender Flucht 1945 in Brandenburg. Mit zehn Jahren sitzt Fink erstmalig auf einer Schulbank. Der gebürtige »Reichsdeutsche«, im Kuppelgeschäft Stalins mit Hitler in den »germanischen« Westen zurückgeschubst, hatte den Stempel bekommen, der seelentief prägte: ein Fremder zu bleiben. Theologie wurde zur Insel. Und lebenslang währt fortan die Suche nach einem Selbstempfinden, das den neuen Staat erträgt, ohne ihn übertrieben mitzutragen.
Die Stationen: Aspirant, Dozent, ordentlicher Professor für Praktische Theologie; seine Habilitationsarbeit untersuchte »Karl Barth und die Bewegung Freies Deutschland«. Zehn Jahre leitet er die Sektion Theologie an der Humboldt-Universität, wird Dekan der Theologen, im April 1990 erfolgt seine Wahl als erster frei bestimmter Rektor Unter den Linden. Im Konzil erhält er als einer von vier Kandidaten 72 Prozent der Delegiertenstimmen: Professoren, Studenten sowie wissenschaftliche, administrative und technische Mitarbeiter.
Die Publizistik des Theologen, immer wieder veröffentlicht auch in dieser Zeitung, offenbarte einen Bildungswillen, der historisches Material als akuten Stoff behandelt. Über Nelly Sachs hat er geschrieben, die jüdische Dichterin; er rief die persönliche Begegnung mit ihr auf und ihre Verse: sinnende Klage, leiser Schrei, flehendes Eingedenken. »Nelly Sachs fragte sich: ›Welt, wie kannst du deine Spiele weiter spielen/ und die Zeit betrügen/ Welt, man hat die kleinen Kinder wie Schmetterlinge,/ flügelschlagend in die Flammen geworfen ... Und Sonne und Mond sind weiter spazierengegangen/ zwei schieläugige Zeugen, die nichts gesehen haben.‹ Warum? fragte die Dichterin.« Diese Frage, immer eine Frage auch an Gott? Fink blieb im Antworten beim eigenen Einwirken aufs Irdische. Mit just diesem Glauben, der es aushalten muss, dass manche ihn überirdisch nennen. Weil er den Menschen nicht abschreibt.
Gundermanns Vers: »hier hat mich mein gott verlorn/ und hier holt er mich wieder ein«. Du bist geworfen, du bist irgendwann gerichtet, dann kommt G., wie Gott, wie Gundermann - und wie Goethe: Bist »gerettet«. Mit anderen Worten: Was dich einholt, ist das eine, was dich auffängt, etwas anderes. Heinrich Fink wurde eines Tages eingeholt - von Leuten, die ausholten. Seine Rektorenschaft wuchs sich aus zu einem bitteren Kampf, in dem bestehende und zerrissene Stasiakten, Gerüchte und Gerichte, Zeugen und Zeugs, Beweise und Weismachungen einander überhäuften, sich übern Haufen rannten. Unterm entschiedenen, dann wieder unentschiedenen Urteils- und Vorurteilsgeschrei sollte der Wahrheit die Luft ausgehen: Da keimte ein neuer Typus Universität, ging Ostkompetenz ans Werk der Reform. Könnte jetzt jener Grundbestand an ethischen Vorgaben angelegt werden, den ein freundliches Gemeinwesen benötigt?
Dem Plan ging, wie den Herbstrevolutionären überhaupt, die Luft aus: Abwicklungen folgten, und jene Welle West kam, die alles säuberte, als sei Meister Propper Regierungsmitglied geworden. Fink, die Exempel-Gestalt: Im Januar 1992 wird er, angeblich ein IM, entlassen. Berliner Studenten waren für ihn auf der Straße gegangen, waren zur Marienkirche gezogen, wo sich die gewählten Bundestagsabgeordneten Gottes Segen holen wollten. Finanzminister Theo Waigel beschwerte sich bei Innenminister Wolfgang Schäuble über die Sicherheitsbedingungen. Ihn habe nur ein Busfahrer vor dem »Mob« gerettet.
Fink - 1998 für drei Jahre Bundestagsabgeordneter der PDS und ab 2003 elf Jahre Präsident der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes - Bund der Antifaschisten - wirkte scheu, doch schwang in seiner Erscheinung konfliktwillige Klarheit mit. Er blieb beschämbar durch kalte Gesellschaftspraktiken, aber wenn er Verletzungen weglächelte, stand da immer auch ein Mensch, ins Gefühl gehoben, ein Getragener zu sein. Wenn man Fink erlebte, dem noch in großer Ernsthaftigkeit ein Gran Heiterkeit und eine untilgbare Spur Sanftheit beigemischt blieb, so spürte man, wie sehr das Herz ein geiststeuerndes Organ sein kann. Steuerung für den Gedanken, der Mensch möge ein Wesen sein, das sich selber mag: Hab weniger Angst, vor allem vor dir selbst. Es schien, sein Gesprächsblick habe Geduld mit dir, der du rasend schnell zurückrauschen würdest ins Geläufige. Religion als Abschottung gegen diese Lichtlosigkeit in den buntesten Farben. Es loderte von innen - das sah man dem Christenmenschen an - eine Energie gegen das allgemeine Abwinken in »liebeleeren Zeiten« (Christa Wolf). Nun starb Heinrich Fink, mit 85.
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