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Je länger, je böser

Der ehemalige Gefängnisdirektor Thomas Galli sucht nach Alternativen zur Haft.

  • Yannic Walther
  • Lesedauer: 5 Min.

Etwa 60 000 Menschen sind in Deutschland 2020 inhaftiert. Und die Lobby der Menschen hinter den Gittern ist klein. Selbst in der Linken fristet Knastkritik ein Nischendasein. Wer das Strafsystem kritisiert, müsse Alternativen vorlegen, so der gesellschaftliche Tenor. Doch genau das machen Aktivisten - und selbst der ehemalige Gefängnisdirektor Thomas Galli. Gefragt danach, was er mit den Gefangenen machen würde, ginge es nach ihm, antwortet er: »Ich würde alle freilassen.«

Durchschnittlich 130 Euro kostet ein Inhaftierter pro Tag. Ob Gefängnisse abschreckend wirken, ist umstritten. Jeder dritte, der eine Freiheitsstrafe verbüßt hat, wird nach einer bundesweiten Studie innerhalb von neun Jahren zu einer weiteren verurteilt. Auch die soziale Ungleichheit spiegelt sich in den Gefängnissen wider. »Soziale Probleme, für die es eigentlich politische Lösungen braucht, werden wortwörtlich weggesperrt«, meint Manuel Matzke von der Gefangenengewerkschaft GG/BO. Wer schon kein Geld für ein Bahnticket hat, wird auch die Geldstrafe nicht zahlen können, wenn er ohne erwischt wird. Früher oder später droht dann oft Gefängnis.

»Der Großteil sitzt wegen Bagatelldelikten in Haft. Wären diese entkriminalisiert, bräuchte es deutlich weniger Zellenbetten«, sagt Matzke. Gefängnisse sollen Sicherheit schaffen und die Täter auf ein gesetzestreues Verhalten nach der Entlassung vorbereiten. Doch ob sie wirklich resozialisierend wirken, ist fraglich.

In seinem jüngst erschienenen Buch »Weggesperrt: Warum Gefängnisse niemandem nützen« legt Galli dar, dass Haft oft das Gegenteil von gesellschaftlicher Wiedereingliederung bewirkt. Die Subkultur hinter Gittern und die Entmündigung der Insassen fördern selten ein verantwortungsvolleres Verhalten der Gefangenen.

Inhaftierte verlieren im Gefängnis Job und Wohnung. Nach der Entlassung müssen sie mit dem Stigma des »Ex-Knackis« kämpfen. Zusätzlich erschwert werde der Neustart durch Schulden aus dem Gerichtsverfahren, die Inhaftierte von ihrem geringen Arbeitslohn von einem bis drei Euro hinter Gittern nicht begleichen könnten. Die nächste Inhaftierung lässt dann zu oft nicht lange auf sich warten.

Galli, der fünfzehn Jahre im Strafvollzug arbeitete und von 2013 bis 2016 die JVA Zeithain in Sachsen sowie kurzzeitig zudem die JVA Torgau geleitet hat, ist der Auffassung, dass von einem großen Teil der Inhaftierten keine Gefahr für die Allgemeinheit ausgehe. Etwa die Hälfte der Gefängnisinsassen sitzt wegen Eigentums- oder Vermögensdelikten. Von der Gesamtzahl aller Inhaftierten verbüßt über ein Drittel Freiheitsstrafen von unter einem Jahr. »Hätte allein in diesen Fällen die Leistung gemeinnütziger Arbeit Vorrang und müssten nur jene in Haft, die sich beharrlich verweigern, hätten wir schätzungsweise jeden Tag etwa 20 000 Menschen weniger in Haft.«

Doch gemeinnützige Arbeit gibt es bisher nur alternativ zu Ersatzfreiheitsstrafen oder als Bewährungsauflage, nicht als Strafmöglichkeit an sich. Auch die elektronische Fußfessel, mit der verurteilte Straftäter etwa weiter arbeiten könnten, ansonsten aber einen überwachten Hausarrest verbüßen, findet in Deutschland kaum Anwendung. Für Galli besteht das Grundproblem des deutschen Strafsystems darin, »dass wir derzeit juristisch keine Möglichkeit haben, die Höhe des Unrechts einer Tat anders als in der Länge der Freiheitsstrafe auszudrücken«. Auch Manuel Matzke von der Gefangengewerkschaft sagt: »Wir müssen wegkommen von dem Fokus auf das Strafen.«

Gallis Vorschlag: Gerichte sollten eine Tat nur noch einer von zehn Kategorien zuordnen, für die es jeweils Mindest- und Höchststrafen gibt. Die niedrigste Kategorie bezeichnet etwa einen Fahrraddiebstahl, die höchste einen Sexualmord. Über die genaue Ausgestaltung der Maßnahmen urteilt dann eine Kommission. Darin würden Kriminologen, Psychologen und Anwohner für den einzelnen Fall über Suchttherapie, Anti-Aggressionstraining, Entschädigungen und gemeinnützige Arbeit entscheiden. Auch die Opfer von Straftaten sollten einbezogen werden - womit Galli an die Idee der »Restorative Justice« anknüpft.

Das Konzept fokussiert sich vor allem auf die Bedürfnisse der Opfer. Beteiligte eines Konflikts werden zusammengebracht und gefragt, wie der Täter Wiedergutmachung leisten könne. »Restorative Justice gibt den Opfern die Macht zurück, behandelt sie als wichtige, gleichberechtigte und gleichwürdige Teilnehmer*innen eines Prozesses«, schreibt die Aktivistin Rehzi Malzahn.

In ihrem 2018 erschienenen Sammelband »Strafe und Gefängnis« wirbt sie für die verstärkte Anwendung dieser Art der Mediation in Deutschland. Die Möglichkeit dazu besteht. Zum Beispiel können Gerichte auf einen Täter-Opfer-Ausgleich zwischen den Beteiligten hinwirken. Dieser kann sich für den Täter strafmildernd oder sogar verfahrenseinstellend auswirken. Doch Anwendung findet er kaum.

Doch auch, wenn man Bagatelldelikten konsequent entkriminalisierte, wenn der Einsatz von Fußfesseln ausgeweitet würde, wenn gemeinnützige Arbeit zur Wiedergutmachung sowie Verfahren der Mediation breiter eingesetzt würden, bleibt doch die Gretchenfrage: Was soll mit den Schwerstkriminellen passieren?

Hier gerät Restorative Justice an seine Grenzen. Galli meint, dass es nicht ganz ohne Freiheitsentzug gehe. Doch nicht unbedingt Gefängnisse, wie wir sie kennen, könnten die Allgemeinheit schützen. Auch dorfartige Wohnsiedlungen, wie es sie in skandinavischen Ländern gibt, könnten das leisten, schreibt der Kriminologe.

Das Bundesverfassungsgericht urteilte im Jahr 1977, dass die Freiheitsstrafe, konkret auch die lebenslange, mit der Menschenwürde vereinbar sei. Gleichzeitig wurde damals anerkannt, dass dieses Urteil keine »zeitlose Gültigkeit« erhebt. Vom christlichen Rechtssatz des Auge um Auge, Zahn um Zahn ist es ein weiter Weg bis zu den heutigen Gefängnissen gewesen. Was bestraft wird und wie das geschieht, hat sich im Laufe der Zeit gewandelt. Und Alternativen zur heute praktizierten Freiheitsstrafe gibt es auch schon.

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