Wer zum Schwert greift ...

Bombenkrieg und Verbrechen gegen Zivilbevölkerung - einst und heute

  • Armin Jähne
  • Lesedauer: 4 Min.
Gegenstand beider Bücher ist eine seit Jahren gerade auch in Deutschland heftig und kontrovers diskutierte Problematik: der Bombenkrieg der westlichen Alliierten im Zweiten Weltkrieg, d. h. die massiven Luftangriffe der Fliegerkräfte Großbritanniens und der USA auf deutsche Städte. Doch weder Hamburg, Berlin, Dresden, Pforzheim oder Nordhausen wären zerstört worden, wenn nicht Deutschland im September 1939 einen verbrecherischen Krieg vom Zaune gebrochen hätte. Der Luftterror gegen die Zivilbevölkerung begann mit den Bombardierungen von Warschau, Rotterdam und Coventry. Selbst der Umstand, dass 1943 die Deutschen bezüglich der Luftangriffe bereits weit hinter den Alliierten zurücklagen, ändert daran nichts, ist auch kein Argument gegen Ausmaß und Ausufern des anglo-amerikanischen Luftkrieges. Wie in Deutschland lebende oder kurzzeitig tätige Ausländer, Journalisten, Geschäftsleute, aber auch Kriegsgefangene die Bombardierung deutscher Städte, insbesondere Berlins, erlebten, ist in Tagebüchern, Zeitungsartikeln, Rundfunkberichten oder späteren Erinnerungen zu lesen. Der Berliner Literaturwissenschaftler Oliver Lubrich hat sie gesichtet und in repräsentativer Auswahl zu einer Anthologie vereint. Diese »Berichte aus der Abwurfzone« sind zeitlich geordnet. Weit davon entfernt, eine Chronologie der Bombenangriffe zu sein, leuchten sie in den Zustand der deutschen Gesellschaft hinein, zeigen sie die Auswirkungen der ständigen Luftalarme und der Zerstörungen auf die Moral der Zivilbevölkerung. Bemerkenswert ist, dass die russische Aristokratin Marie Wassiltschikow, die in Deutschland lebt und für das Auswärtige Amt arbeitet, in ihren Notizen - erstmals wohl und in des Wortes eigentlichem Sinne - den aus dem Griechischen stammenden Begriff »holocaust« zur Bezeichnung von Bombenangriffen und des von ihnen ausgelösten Feuers benutzt, das Menschen und Tiere tötet. Dem Dilemma, dass die Alliierten einerseits einen unbestritten gerechten Krieg gegen Nazideutschland bzw. Japan führten, andererseits - so wie ihre Bombardierungen deutscher und japanischer Städte apokalyptische Ausmaße annahmen - ihre eigenen humanitären Grundsätze verletzten, wendet sich der englische Philosoph Anthony C. Grayling zu, und zwar in aller Konsequenz. »Waren die alliierten Bombenangriffe Kriegsverbrechen?«, fragt er schon im Untertitel seines Buches. »Kann es überhaupt Umstände geben, unter denen die Tötung von Zivilpersonen in Kriegszeiten kein moralisches Kriegsverbrechen darstellt? Kann es Umstände geben - Notsituationen, Gefahrenlagen, zu deren Abwehr diese Maßnahmen ergriffen werden -, die diese Angriffe rechtfertigen oder wenigstens entschuldigen?« Ehe Grayling eine Antwort auf die Fragen gibt, die gleichsam den »Ordnungsrahmen« für das von ihm initiierte »Gerichtsverfahren« bilden, schildert er den Bombenkrieg der Alliierten, seine Auswirkungen auf Deutschland und Japan, legt die Ziele der Strategen dar, prüft die Argumente, die noch während des Krieges gegen die Flächenbombardements vorgebracht wurden, und geht dann auf die Rechtsgrundsätze ein. Im letzten Kapitel fällt er sein Urteil: »War das Flächenbombardement notwenig? Nein. War es verhältnismäßig? Nein. Widersprach es den humanitären Grundsätzen, die Menschen aufstellten, um dem Krieg Schranken aufzuerlegen? Ja ... Kurzum: War das Flächenbombardement Unrecht? Ja. Ein schweres Unrecht? Ja ... Hätten sich die Besatzungen weigern sollen, Flächenangriffe zu fliegen? Ja.« Fazit: Die Flächenoffensiven der alliierten Bomber waren moralische Verbrechen, die zudem die in sie gesetzten militärischen Erwartungen keineswegs erfüllten. Wenn Grayling kritisch zurückblickt, bleibt er in der Gegenwart, denn er möchte falscher Legendenbildung oder groben Vereinfachungen vorbeugen. Durch nichts sind die Nazi-Kriegsverbrechen und die deutschen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Zweiten Weltkrieg zu relativieren. So waren auch die bedauernswerten zivilen Opfer des alliierten Bombenkrieges gegen Deutschland, die nicht geleugnet werden, letztlich selbstverschuldet. Wer zum Schwert greift, wird durchs Schwert umkommen. Grayling hat die Gegenwart im Auge, wenn er alliiertes Unrecht, begangen im Zweiten Weltkrieg, benennt und ein entsprechendes, offenes Eingeständnis fordert und vehement auf Beachtung und Einhaltung des Zusatzprotokolls vom Juni 1977 zum Genfer Abkommen (1949) besteht. Er schaut zugleich in die Zukunft: nach dem Nahen Osten und überall dorthin, wo es Krieg gibt oder bewaffnete Konflikte drohen. Es darf nicht sein, dass Politiker und Militärs heute und künftig in amoralischen Kategorien des Zweiten Weltkrieges verharren, die »Moral der Zivilbevölkerung« zum Kriegsziel erklären oder Angriffe auf wirtschaftliche Ziele wie Öl-, Strom-, Wasserversorgung für legitim halten und damit »Kollateralschäden« das Wort reden. Grayling hat ein prinzipielles Werk gegen Kriegsverbrechen und Massenmord geschrieben. Oliver Lubrich (Hg.): Berichte aus der Abwurfzone. Ausländer erleben den Bombenkrieg in Deutschland 1939 bis 1945. Eichborn, Frankfurt (Main). 476 S., geb., 30 EUR. Anthony C. Grayling: Die toten Städte. Waren die alliierten Bombenangriffe Kriegsverbrechen? Bertelsmann, München. 410 S., geb., 22,95 EUR.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.