Niederländische Geschichte in Srebrenica
Die Verantwortung der UN-Truppen für das Massaker in Bosnien ist umstritten. Initiativen fordern, die Opfer anzuhören.
Die Situation ist fast schon bizarr. Zwei Männer stehen sich gegenüber, Geschenke werden überreicht, beide stoßen mit Sliwowitz an, ein beliebter Pflaumenschnaps. Es ist der 11. Juli 1995. Die beiden Männer sind Ratko Mladić, General und Befehlshaber der bosnisch-serbischen Armee mit 4000 Soldaten, und Thom Karremans, Oberstleutnant und Bataillonskommandeur der knapp 400 Personen starken niederländischen UN-Einheit Dutchbat. Das bosnisch-serbische Militär, den Blauhelmsoldaten in Zahl und Ausrüstung überlegen, nimmt 30 Niederländer als Geisel und fordert die Herausgabe der 25 000 Flüchtlinge, die von den Blauhelmsoldaten in der UN-Schutzzone in Srebrenica bewacht werden. Karremans Hilferuf um Luftunterstützung wird ignoriert. Die Flüchtlinge werden ausgeliefert. Darauf wird auf Mladićs Initiative hin angestoßen.
Liesbeth Beukeboom ist Soldatin in der Einheit und erinnert sich im Gespräch mit dem Fernsehsender NPO: »Ich hab mich gefragt: Wo ist der Rest der Welt? Von Anfang an wurde uns von der UN Unterstützung zugesichert. ›Ihr seid nicht allein‹, hat es geheißen.« Aber die Niederländer sind allein und gänzlich auf sich gestellt. Karremans, der Mann mit dem freundlichen Gesicht, dem dicken Schnauzbart und den damals noch gutmütigen, heute eher traurigen Augen beugt sich der Übermacht, ordnet den Rückzug an und wird später im eigenen Land der Sündenbock für den Massenmord von Srebrenica.
Zum 25. Jahrestag des Genozids muss er sich öffentlich erinnern. Im Gespräch mit der niederländischen Tageszeitung »NRC« denkt er daran zurück, wie ihn Menschen 2002 auf der Straße als »dreckiger Mörder« beschimpften, nachdem ein Bericht des niederländischen Instituts für Kriegs-, Holocaust- und Genozidstudien erschienen war.
Er sei tief getroffen gewesen. »Es ist noch immer ein großer Faktor in meinem Leben«, erklärt er. Aber seine Meinung zu Srebrenica habe sich nicht geändert. Für ihn bleibt es eine »Mission Impossible«. Wut, aber vor allem Frustration und Enttäuschung scheinen in dem Gespräch durch. Den Männern und Frauen der Einheit Dutchbat werde ihr Handeln immer noch vorgeworfen. Da sei es verständlich, dass sie, die damals ihr »verdammtes Bestes« getan hätten, heute wütend seien. Aber es sei schlicht nicht möglich gewesen, mit einer Pistole einen Panzer aufzuhalten.
Er habe gewusst, dass er Mladić nichts entgegenzusetzen habe. Aber höheres UN-Militär sei nicht verfügbar gewesen. »Mladić hatte alle Trümpfe in der Hand. Und ich hatte nichts. Ja, 25 000 Flüchtlinge und eine Handvoll leicht bewaffneter eigener Soldaten.« Dass die Soldaten seiner Einheit immer noch als Schwächlinge gelten, die beim Genozid tatenlos zugesehen habe, sei »unfassbar ungerecht«.
»Wir wurden im Stich gelassen. In Srebrenica und in den Jahren danach.« Er habe Ministerpräsident Mark Rutte und Verteidigungsministerin Jeanine Hennis damit konfrontiert. »Wo bleibt die Nachsorge für unsere Männer und Frauen? Wie viele haben Selbstmord begangen oder leiden an posttraumatischen Belastungsstörungen? Bis heute habe ich keine Reaktion erhalten.«
Auch in der Gesellschaft ist Srebrenica kaum Thema. Die Kampagne »Srebrenica ist niederländische Geschichte« von Niederländern mit bosnischen Wurzeln will das ändern. Zwar gibt es in Den Haag einen jährlichen Friedensmarsch zum Gedenken an das Kriegsverbrechen, aber das ist der Gruppe nicht genug. Sie fordert ein Nationalmonument in Den Haag und mehr Aufmerksamkeit im Geschichtsunterricht.
Daria Bukvić, Mitglied der Kampagne, erklärt: »Viele Menschen meiner Generation oder jünger haben noch nie von Srebrenica gehört.« Dies bestätigt auch der Historiker Marc van Berkel: »Das Lehrmaterial befasst sich hauptsächlich mit dem niederländischen Militär in Srebrenica. Die Perspektive ist zu einseitig. Den Opfern und Folgen des Genozids wird kaum Aufmerksamkeit geschenkt.« Die Veranstalter der Kampagne hoffen, dass Srebrenica in Zukunft als Teil der niederländischen Geschichte gelehrt wird. »Die Opfer verdienen das. Sie verdienen diesen Respekt.«
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.