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Die Regierung des Virus
Epidemiebekämpfung, Vernunft und Herrschaft - von Cholera bis Corona.
Um gut mit der Pandemie umzugehen, ist sowohl fundiertes Wissen über das Virus - seine Biologie, seine Epidemiologie - gefragt, wie auch über die Kosten und Folgen von sozialer Distanzierung, Grenzschließung, Überwachung, Ausgangssperren, Schul- und Kitaschließungen. Über beides wissen wir immer mehr. Und doch, es ist noch immer relativ wenig. Nolens oder volens befinden uns in einem Experimentiermodus.
Während sich weiterhin viel moralischer und politischer Druck entlädt, ist die politische und wissenschaftliche Auseinandersetzung diverser geworden. Dabei tritt zutage, welche Kriterien für »gutes Regieren« bereitstehen und welche Vorstellungen von sozialer und globaler Ordnung besonders schnell zur Hand sind. Wer die Seuchengeschichte des 19. Jahrhunderts heranzieht, erkennt so manches wieder - zumindest was die zirkulierenden politischen Rationalitäten betrifft.
Die Politologin Dr. phil. Irene Poczka, geb. 1981 in Westberlin, forscht an der Universität Tübingen im Institut für Ethik und Geschichte der Medizin zur Geschichte von gesundheitlicher Prävention und Seuchenbekämpfung.
Im Rahmen eines Sonderforschungsbereichs der Deutschen Forschungsgemeinschaft bearbeitet sie derzeit das Teilprojekt »Resistente Mikroben: Die Bedrohung und Neuordnung der ›Medizinischen Ordnung‹ durch Antibiotikaresistenzen seit den 1990er Jahren«.
Als zu Beginn der 1830er Jahre zum ersten Mal eine Cholera-Pandemie auch Westeuropa erreichte, diskutierten Gelehrte, Diplomaten und Regierende bald hitzig über die Effektivität der Quarantäne. Zunächst reagierte man spontan und panisch mit denselben Maßnahmen, die in den Jahrhunderten zuvor gegen die Pest angewendet wurden: Stinkender Unrat wurde von den Straßen entfernt, Grenzen und Häfen geschlossen, Kranke in ihren Häusern ein- und »verseuchte« Städte oder Viertel abgesperrt.
Berichte aus Russland, das Ende der 1820er Jahre die erste Cholera erlebt hatte, zeigten allerdings, dass Cordons Sanitaires, Grenzschließungen und Quarantäne keine Eindämmung bewirkt hatten. Auch die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Maßnahmen etwa im eingeschlossenen St. Petersburg waren verheerend.
Wer weiter glauben wollte, dass die Cholera der Pest ähnelte, behauptete wie die preußischen Anhänger der Ansteckungstheorie, die Maßnahmen seien in Russland nur nicht gut umgesetzt worden. Liberale Mediziner dagegen bestritten die Übertragbarkeit der Krankheit und kritisierten in Großbritannien die Verhängung der Quarantäne durch das zentrale Board of Health als rückständig und unwissenschaftlich. Sie zwangen die Regierung zu einem Strategiewechsel. Grundlage für die neuen Maßnahmen waren unter anderem Berichte über den Umgang mit der Cholera im kolonialisierten Indien. Britische Truppenbewegungen, Kämpfe und Flucht hatten dort wohl die erste Cholera-Pandemie ab 1817 mit entstehen lassen. Britische Ärzte hatten dadurch aber eine frühe Möglichkeit, Erfahrungen mit der Epidemie zu dokumentieren.
Die Geburt der Epidemiologie als Regierungswissenschaft
Großbritannien wurde so zum Geburtsort epidemiologischer Wissenschaft, die vor allem nach dem Prinzip des »whatever works« funktionierte. In den 1840er und 1850er Jahren sammelten lokale Boards of Health während weiterer Cholera-Wellen in Großbritannien umfangreiche Daten, die in der Londoner Administration in buchdicken Berichten zusammengefasst wurden. Starke Regenfälle und lokale Häufungen von Magen-Darm-Erkrankungen wurden als Warnsignale für Cholera-Ausbrüche und bestimmte Bevölkerungsgruppen als besonders anfällig identifiziert. Erkrankte sollten möglichst aus den Städten geschafft werden.
In den 1860er Jahren wurde schließlich die Verunreinigung von Trinkwasser durch überlaufende und undichte Sickergruben als zentral erkannt. Sanitäre Maßnahmen wurden zum Schlüssel im Kampf gegen die Cholera - schon bevor man zugeben wollte, dass sie von einem Mikroorganismus übertragen wurde. Obwohl in Großbritannien umfangreich und mit aller staatlichen Gewalt gegen die Cholera vorgegangen wurde, blieben Handel und Produktion insgesamt relativ unangetastet.
Andere Europäische Mächte sahen den regen Schiffsverkehr mit Indien oder dem Nahen Osten als Ursache für die »Einschleppung« der Cholera und setzten London auf den ersten multilateralen Gesundheitskonferenzen ab 1851 stark unter Druck. Doch die britische Regierung behielt ihren Kurs bei. Sie argumentierte nicht, wie die anderen Vertreter, mit den noch vagen medizinischen Theorien über die Verbreitung der Krankheit, sondern mit dem Erfolg ihrer Maßnahmen in ihrem Land, wo nach 1866 die Cholera nicht mehr ausgebrochen war. Das stärkte ihre Position gegenüber den anderen Mächten. Auch die Entdeckung des Cholera-Bakteriums durch Robert Koch 1883 führte nicht zu einer Schwächung der britischen Position in jenen Verhandlungen.
Während man politische Machtinteressen und auch die Diskussionen über wissenschaftliche Theorien von den Konferenzen verbannte, ging es schließlich nur darum, welche Regierung sich im praktischen Umgang mit der Cholera beweisen konnte. Wer fortschrittlich regieren wollte und wer dazu noch die staatlich-administrativen Voraussetzungen mitbrachte, musste sich zu dieser Zeit einer neuen biopolitischen Regierungsrationalität unterwerfen. Während bisher historisch legitimierte Rechte an Territorien im Zentrum zwischenstaatlicher Verhandlungen und Verträge gestanden hatten, stellte die Cholera die Regierungen vor ein ganz anderes Problem. Epidemien gehörten niemandem, scherten sich nicht um Verträge und Grenzen und folgten eigenen Gesetzen. Die neue Kunst der Regierung bestand nun darin, diese Gesetze zu kennen und die Epidemie so detailliert und umfassend wie möglich zu regulieren.
Das statistische Wissen wurde zum Ausgangspunkt der Regierung der Cholera. Epidemien waren das perfekte Problem, an dem sich die liberale Biopolitik entfalten konnte. Denn während man in vielen Staaten zunächst versuchte, die eher juristischen Grenzen in reale Grenzen umzuwandeln, um das Lebendige - Migration, Schmuggler und eben auch die Epidemien - in seiner ganzen Materialität ein- und ausgrenzen zu können, bemerkte man ebenso, dass das umfassend zu regierende Leben der Bevölkerung auch von der Durchlässigkeit der Grenzen, von sozialer Interaktion, von Produktion, Handel und Transport von Waren abhing. Es galt also weit mehr Wissen zu integrieren, um schließlich eine Vielzahl an sozialen und ökonomischen Kräften und notwendigen Freiheiten (auch die der Pathogene) kalkulieren und so wenig wie nötig aber - wenn nötig - auch möglichst umfassend regulieren zu können.
Die Regierung in London stellte Mitte des 19. Jahrhundert fest, dass sie bei Weitem nicht über alles Wissen verfügte, um allgemeine Regularien aufzustellen. Die lokalen Boards of Health wurden mit Personen bestückt, die möglichst genau über regionale Gegebenheiten Bescheid wussten. Anstelle von Quarantäne und strengen Kontrollen etwa der Häfen trat die Verpflichtung der Kapitäne, sich selbst um überzeugende Zertifikate über die Hygiene an Bord zu kümmern. Man setzte das Wissen und die Reflexivität von Individuen zur Optimierung einer möglichst »klugen« Regierung der Epidemie ein.
Nicht die Fähigkeit, hart durchzugreifen, sondern die Eleganz einer durch umfassendes Wissen verfeinerten Regulation, nicht das Beharren auf altbekannten Verfahren, sondern gerade Anpassungsfähigkeit und Flexibilität sind seither das Qualitätsmerkmal moderner Regierungskunst mit Blick - nicht nur - auf Epidemien. Im 19. Jahrhundert war ein solches Regierungsdenken in Europa neu. Die Staatlichkeit der meisten Länder war noch kaum so durchdringend, dass sie mit Hilfe der individuellen Selbstregulation der Bevölkerung rechnen konnte.
Über Vernunft, Zwang und Zwangsvernunft
Dies zeigt unter anderem die Cholera in Paris. Weil man dort zunächst geglaubt hatte, die Seuche würde das Zentrum des aufgeklärten Europas verschonen, war der Schock groß, als sie dort 1832 voll zuschlug. Das selbstbewusste Bürgertum war überzeugt, dass die richtige Diät und Kleidung vor der Cholera schütze. So versuchte man, nicht nur den Adel, sondern vor allem auch die arbeitende und arme Bevölkerung mittels Flugschriften über Prävention aufzuklären. Die Lebensrealität dieser Schichten wurde dabei allerdings nicht berücksichtigt. Die Empfehlung von Flanell-Bauchbinden, magerem Fleisch sowie gutem Wein und auch der Rat, Behausungen gut zu belüften, mussten wie blanker Hohn klingen, wenn man die Schriften denn lesen konnte. So befeuerten allerlei Gerüchte über eine gezielte Vergiftung der Armen schon damals Aufstände gegen die Maßnahmen der Regierung und der Medizin. Das Scheitern dieser »Aufklärung« quittierte die Oberschicht dann mit dem Verdikt, dass mit rationalen Mitteln »unregierbare« Bevölkerungsteile an den Stadtrand verbannt werden müssten. Denn wer aufgeklärt war und gebildet, setzte die vermeintlich wissenschaftlich begründeten Regeln natürlich freiwillig um. Alle anderen mussten ungebildet sein oder hoffnungslos moralisch verkommen.
Heute führt uns die Corona-Pandemie vor Augen, wozu Staaten mit Verweis auf die »biologischen Gesetze« des Virus in der Lage sind. Sie zeigt uns, wie umfassend nicht nur die staatlichen Techniken, sondern auch jene Formen der Selbstregulierung wirksam werden. Wir erleben, wie bei der Regierung der Pandemie überall in Europa auch auf freiwillige Beteiligung gesetzt wird. Soziale Anerkennung wird denen zuteil, die sich brav an die Empfehlung halten. Das über die Medien vielfach verbreitete Bild von Frauen, die in fleißiger Heimarbeit Masken nähen und angesichts geschlossener Schulen, Kitas und Restaurants ihre Kinder zu Hause betreuen und die Familien bekochen, stellt Anerkennung für die Unterwerfung unter »traditionelle« Geschlechterpflichten in Aussicht. Auch sind es eher Frauen, die sich etwa von der Forderung nach nachbarschaftlicher Solidarität am schnellsten angesprochen fühlen. Die Anerkennung für die kostenfreie Übernahme der wieder ins Private verschobenen Sorgearbeit ist billig - wie auch das Klatschen für das größtenteils weibliche Personal in Klinken und Pflege.
Vor allem in den ersten Wochen der Pandemie überboten sich die Menschen mit Signalen und Gesten größtmöglicher Vorsicht. Wer den Abstand nicht einhielt oder das »social distancing« anderweitig unterlief, wurde - bevor polizeilich vorgegangen werden konnte - mit der Missbilligung aufmerksamer Mitmenschen gestraft. Wer Fehlverhalten öffentlich tadelte, durfte sich gut fühlen, wer Fehler machte, sollte sich schämen.
Die Differenzierung der Subjekte
Kinder und unvernünftige Jugendliche wurden wie einst die Pariser Armen der rationalen Selbstregierung für unfähig erklärt und sollten aus der Öffentlichkeit verschwinden. Spielplätze wurden gesperrt, beim Einkauf waren Kinder höchst unerwünscht. Wer schmutzig auf die Straße tritt oder dort lebt, steht mehr denn je unter Generalverdacht, die Hygiene und damit die geforderte Selbstregierung nicht gewährleisten zu können. Täglich wurde und wird dieser neue moralische Diskurs in den Medien geführt: Haben die Leute endlich verstanden?
Dass das »Zuhausebleiben«, dass der »vernünftige« und »richtige« Umgang mit der Pandemie entsprechender Ressourcen bedarf - wie schon bei den Pariser Armen des 19. Jahrhunderts, die ihre Wohnungen »gut lüften« sollten -, wurde dabei gelegentlich angesprochen. Der Gedanke, dass die Pandemie womöglich auf notwendige Umverteilungen deute, kam eher selten vor. Im Allgemeinen drehte sich der Diskurs um den »richtigen Umgang« mit Corona aufwendig um die Frage, wer individuell eine gute Performance zeige und wer nicht.
Wie die Politik entfaltete auch die alltägliche Corona-Handlungsethik eine gewisse Eigendynamik, die der Logik und Technik modernen Regierens entspricht. Es geht um ein demonstratives Display einer guten Führung des Selbst. Um die Zurschaustellung der guten Absichten, um Handlungsfähigkeit, Opferbereitschaft, Vernunft, Rationalität, Rücksicht und sogar Kreativität. Hier werden allerlei Grenzen zwischen »Vernünftigen« und »Anderen« gezogen und befestigt. Ohnehin verbreitete rassistisch-klassistische Redeweisen über »unvernünftige« Lebensführung oder »die Kultur« bestimmter Gruppen werden bestätigt und bestärkt.
Zuletzt zeigt sich das in der rassistischen Berichterstattung über das »verantwortungslose« Verhalten Göttinger oder Berliner »Großfamilien«, deren angeblich disziplinlose Feierei nun von »uns allen« bezahlt werden müsse. Auch bei den erwartbaren Ausbrüchen in der Fleischindustrie geriet das angeblich individuelle Verhalten der »osteuropäischen« Beschäftigten in den Blick.
Wo immer der Verdacht aufkommt, dass Menschen den Anforderungen der angemessenen Selbstregulierung nicht gerecht werden, gelten plötzlich andere Kriterien für »gutes Regieren«. Wer sich selbst nicht reguliert, darf, so sagt es auch das Infektionsschutzgesetz, gemaßregelt und mit aller Gewalt der Freiheit beraubt werden. Diese Differenzierungsprozeduren, nach denen Menschen wie Pathogene nach den Möglichkeiten ihrer Regierbarkeit unterschieden und zum Gegenstand unterschiedlichster Behandlung werden, kennzeichnen die moderne Regierung der Epidemien.
Als im 19. Jahrhundert die europäischen Mächte beschlossen, in ihren Häfen die Quarantäne für Schiffe abzuschaffen, um ihren Handel nicht zu schädigen, nahmen sie wie selbstverständlich Staaten wie Ägypten oder das Osmanische Reich aus. Auf der Internationalen Gesundheitskonferenz von 1866 beschlossen Europas Herrscher, »unregierbaren« muslimischen Pilgern die Rückreise über das Mittelmeer zu verbieten, sollte in Mekka die Cholera ausbrechen - auch wenn das bedeutete, dass sie auf dem Landweg durch die Wüste umkamen. Noch heute gibt die globale Gesundheitspolitik der Sicherung des Nordens Vorrang vor einer soliden medizinischen Versorgung und Sicherung aller Menschen.
Die Produktion anspruchsvoller medizinischer Evidenz hinkt diesem Wechselspiel von Selbstregierung und Politik hinterher. Die Vielzahl von Daten ist in der Kürze der Zeit kaum zu erheben, geschweige denn zu verarbeiten. Daher ist der wissenschaftliche Beweis der Effektivität vieler Maßnahmen und Verhaltensweisen nicht vorhanden oder nur schwach. Das kritisierte hierzulande schon zu Beginn der Maßnahmen Anfang März etwa das Deutsche Netzwerk für Evidenzbasierte Medizin - und auch die European Centers for Disease Control and Prevention (ECDC) gaben in ihrer Empfehlung für »social distancing« den deutlichen Hinweis, dass es trotz begründeter Annahmen bisher keinen wissenschaftlichen Nachweis für dessen Wirksamkeit gebe. Und schon gar keine Gesamtabwägung aller seiner Effekte auf unsere Gesellschaft.
Liberaler Fortschritt ist auch Fortschritt von Beherrschung
In den kommenden Monaten werden Strategien auf der Grundlage von mehr Wissen und neuen Studien auf allen Ebenen einem weiteren Feintuning unterzogen werden. Dass sich etliche der einst als »vernünftig geboten« geltenden Handlungsweisen dabei als nutzlos erweisen könnten, wird der gesellschaftlichen Prämierung eben dieser Handlungsweisen auch im Nachhinein keinen Abbruch tun. Absehbar wird unsere Beteiligung an der Regierung, also die Umsetzung der hier wirkenden Rationalitäten (unsere Vernunft) noch mehr gefragt sein.
Wie in einem Brennglas zeigt nun die Corona-App dieses Wechselverhältnis zwischen der »Freiwilligkeit« von Selbstdisziplin und mehr oder minder subtilen, »nur« moralisch oder doch auf unteren Ebenen auch formal sanktionierten Mechanismen der Disziplinierung von außen, welches das Wesen moderner »Governance« ausmacht. Gewiss lässt sich diese Verfeinerung und Verlagerung von Regierung auf das Feld der individuellen Vernunft, die sich seit dem 19. Jahrhundert vollzieht und dessen historische Katalysatoren die Herausforderungen durch verschiedene Seuchen waren, als liberaler »Fortschritt« lesen. Es ist aber auch ein Fortschritt der Beherrschung und Beherrschbarkeit von Gesellschaften.
Die schnelle, durchschlagende Handlungsfähigkeit von Regierenden sowie funktionierende Mechanismen der Selbstregulierung der Bevölkerung sind von Vorteil gegenüber der Pandemie - im ersten Moment. Auf lange Sicht gilt es hingegen, die Dynamiken dieser Diskurse kritisch im Auge zu behalten. Sonst laufen wir Gefahr, die Pandemie als Entschuldigung dafür zu akzeptieren, dass Strukturen und Vorstellungen noch mehr Raum gewinnen, die es eigentlich längst zu überwinden gilt.
Der Text erschien in etwas längerer Fassung zuerst auf politologinnen.org.
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