Unverzichtbare »Rädchen in der Mordmaschinerie«

Auch Bruno D. verharmloste die eigene Rolle im Nazireich. Vorsitzende des Auschwitz-Komitees verurteilt langjährigen Täterschutz durch bundesdeutschen Staat

  • Susann Witt-Stahl
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Staatsanwaltschaft hält ihn für ein »Rädchen der Mordmaschinerie«. Bruno D. soll in 5230 Fällen im Konzentrationslager Stutthof »die heimtückische und grausame Tötung insbesondere jüdischer Häftlinge unterstützt« haben, heißt es in der Anklageschrift. Der heute 93-Jährige war dort vom August 1944 bis April 1945 als Wachmann eingesetzt. Weil er damals noch minderjährig war, wurde sein Fall vor der Jugendstrafkammer des Hamburger Landgerichts verhandelt. Der Prozess lief seit Oktober 2019.

Mit dem gestern gesprochenen Urteil wird eines der letzten Kapitel der juristischen Auseinandersetzung mit dem Naziterror geschlossen, der in den 1940er Jahren in einem Völkermord kulminiert war. Laut der Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg laufen derzeit noch 14 Ermittlungsverfahren gegen ehemalige Wachleute von deutschen und österreichischen Konzentrationslagern.

Bruno D. war nach eigenen Angaben dafür zuständig, Aufstände und die Flucht von Gefangenen zu verhindern. Während seiner Diensttätigkeit ist es zu Morden an Häftlingen vorwiegend durch Genickschüsse oder den Einsatz des Giftgases Zyklon B gekommen (viele andere sind durch »Vernichtung durch Arbeit« in den Betrieben im Lager gestorben). Eine direkte Beteiligung an Gewaltverbrechen kann Bruno D. nicht nachgewiesen werden. Das ist auch der Grund dafür, dass die Behörden, die seit 1982 von seinem Fall Kenntnis hatten, so lange untätig geblieben waren.

Stutthof war das erste KZ außerhalb der deutschen Grenzen von 1939. Es wurde bereits zwei Monate vor Beginn des Überfalls auf Polen von einer SS-Einheit auf dem Gebiet der damals noch Freien Stadt Danzig zunächst als Zivilgefangenenlager errichtet, 1941 der Gestapo unterstellt, im Januar 1942 offiziell als KZ und ab Juli 1944 als Vernichtungslager genutzt. Von den 110 000 Menschen, die bis zur Befreiung Anfang Mai 1945 inhaftiert waren, kamen etwa 65 000 ums Leben.

Dass Bruno D. überhaupt noch zur Rechenschaft gezogen wird, ist einem Präzedenzurteil von 2011 gegen den ehemaligen SS-Hilfsfreiwilligen John Demjanjuk zu verdanken. Der Ukrainer war in München ohne Nachweis einer konkreten Tatbeteiligung wegen Beihilfe zum Mord an mehr als 28 000 Menschen im Vernichtungslager Sobibor zu fünf Jahren Haft verurteilt worden.

Die erschütternden Zeugenaussagen von Ex-Häftlingen und ihren Nachkommen im Verfahren gegen Bruno D. über die Massenmorde in den Gaskammern und Hinrichtungen - so wurden zwei russische Jungen vier Tage nach Heiligabend 1944 neben einem Weihnachtsbaum aufgehängt -, lassen erahnen, von welchen Gräueln der Angeklagte in Stutthof zumindest gewusst hat.

Das psychologische Gutachten über Bruno D. erinnert an die »Studien zum autoritären Charakter« - ein zentrales Element vieler NS-Täter-Profile -, die der Soziologe Theodor W. Adorno Ende der 1940er Jahre betrieben hatte: Der Sohn eines Gemeindevorstehers aus Obersommerkau im Kreis Danziger Höhe war zu strengstem Gehorsam erzogen worden; als Katholik galt er unter Deutschen als »Polack«, hatte unter Ausgrenzung und einem ausgeprägten Minderwertigkeitsgefühl zu leiden.

Immerhin konfrontierte sich der Angeklagte mit seinen Taten und bat am Montag in seinem letzten Wort vor der Urteilsverkündung alle um Entschuldigung, die durch die »Hölle des Wahnsinns gegangen sind«. Die volle Verantwortung will er jedoch nicht übernehmen. Schließlich habe er als nach Stutthof abkommandierter Wehrmachtssoldat, der aus gesundheitlichen Gründen als frontuntauglich eingestuft worden war, nicht freiwillig dort gedient, wurde er während des Verfahrens nicht müde zu erklären - eine Aussage, die von Historikern und ausgewiesenen Experten des KZ-Systems größtenteils widerlegt wurde: Versetzungen aus den KZ-Wachmannschaften in andere Einheiten waren durchaus möglich und haben auch stattgefunden. Bruno D. hatte gar keinen Versuch unternommen, sich dem Dienst in Stutthof zu entziehen.

Dass seine Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld nicht frei von der unter NS-Tätern verbreiteten Selbstviktimisierung und Neigung zur Relativierung der damals begangenen Menschheitsverbrechen ist, davon zeugt auch ein irritierender Vergleich, den er angestellt hatte - zwischen der ärztlichen Musterung vor der Einberufung zum Militär, für die er seine Kleidung ablegen musste, und den Umgang mit den nackten Leichen ermordeter Häftlinge in den Konzentrationslagern.

Die Vorsitzende des Auschwitz-Komitees Deutschland, Esther Bejarano, die den Beginn des Prozesses gegen Bruno D. im Gerichtsaal mit verfolgt hatte, kann solche Verharmlosungen und Berichte von angeblichem Nichtwissen und Befehlsnotstand »einfach nicht ertragen«. Im Gespräch mit »nd« begrüßte die 95-jährige Holocaust-Überlebende zwar die Verfahren gegen ehemalige NS-Täter und forderte deren konsequente Aburteilung. Zugleich bescheinigte sie der deutschen Justiz und Politik insgesamt historisches Versagen. Nach 1945 seien die Behörden jahrzehntelang untätig geblieben, später seien Ermittler systematisch behindert und Prozesse verschleppt worden. Die Adenauer-Regierung habe Nazis sogar zu stattlichen Karrieren im Staatsdienst verholfen, erinnert Bejarano an Vorgänge in der postfaschistischen BRD - die Adorno einst als Ausdruck eines »kalten und leeren Vergessens« diagnostiziert hatte.

»Das Unrecht gipfelte unter anderem darin, dass viele NS-Täter weitaus höhere Renten bezogen als die überlebenden Opfer ihrer Verbrechen«, so Bejarano weiter, die im KZ Auschwitz in der Rüstungsproduktion von Siemens Zwangsarbeit leisten musste und nur eine geringfügige Entschädigung erhalten hatte. Besonders unfassbar ist für sie bis heute: »Die Leute, die Hitler groß gemacht haben«, Industriebosse und andere ökonomischen Eliten, wurden nie belangt. Dass Neonazis heute wieder auf dem Vormarsch sind, Netzwerke unterhalten, die in den Verfassungsschutz, in Polizei und Bundeswehr reichen, jahrelang unbehelligt morden konnten, während Angehörige der Opfer verdächtigt wurden, sei eine bittere Konsequenz der gescheiterten juristischen Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit.

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