Feiern, wo es nichts zu feiern gibt
In Genua wurde die wiederaufgebaute Autobahnbrücke eingeweiht. Die Infrastrukurprobleme bestehen fort
Am 14. August 2018 stürzte in der norditalienischen Hafenstadt Genua eine große Autobahnbrücke ein. Dabei starben 43 Personen, 566 Menschen wurden obdachlos. Keine zwei Jahre später wurde am Montag das neue Viadukt eingeweiht. 500 Gäste aus Politik, Kirche und Gesellschaft waren geladen. Als Erster überquerte Staatspräsident Sergio Mattarella am späten Nachmittag die rund einen Kilometer lange und 45 Meter hohe Beton- und Stahlkonstruktion, die den Namen des Schutzheiligen der Stadt, San Giorgio, trägt. Die Kunstflugstaffel der italienischen Luftwaffe malte die Nationalfarben grün, weiß und rot in den Himmel.
Doch bei weitem nicht alle Italiener sind der Ansicht, dass mit der neuen Brücke die Probleme, die der Einsturz seinerzeit zutage förderte, beseitigt sind. »Hier gibt es nichts zu feiern«, heißt es in einem Brief, den 75 Feuerwehrleute der Hafenstadt an die Hinterbliebenen der Opfer geschrieben haben. Die Hilfskräfte gehören zu der Gruppe, die vor zwei Jahren Stunde um Stunde unter den Trümmern nach Überlebenden suchten und viele Leben retten. Die Feuerwehrleute erklären sich mit den Verwandten der Opfer solidarisch, die sich weigerten, an den Feierlichkeiten teilzunehmen, weil sie »zu pompös« sind und der Trauer um die Verstorbenen keinen Raum lassen. Die Hinterbliebenen gedachten bereits am Freitag im Theater Carlo Felice bei der Uraufführung des Liedes »Tante pietre a ricordare« (Viele Steine zum Erinnern) des kürzlich verstorbenen Komponisten Ennio Morricone der Toten. Auch die Feuerwehrleute schrieben: »Wir werden erst dann feiern, wenn die Schuldigen des Einsturzes gefunden und verurteilt sind.«
Aber davon ist man noch weit entfernt. Die Gesellschaft Autostrade per l’Italia (Aspi), die einen großen Teil der italienischen Autobahnen betreibt, sieht sich bis heute als unschuldig und weist mit dem Finger auf die Firmen, die für die Kontrolle und Instandhaltung des Streckenabschnitts zuständig waren. Aspi gehört zum größten Teil der Familie Benetton, die in der ganzen Welt wegen ihres Modeimperiums bekannt ist, sich in den vergangenen 20 Jahren mit ihren Beteiligungen aber in immer weitere Branchen vorgewagt hat. Die Benettons wurden nach dem Einsturz der Brücke zum Buhmann der Nation. Vor allem die regierende Fünf-Sterne-Bewegung versprach damals hoch und heilig, dass Aspi und die Familie Benetton »nie wieder« irgendetwas mit Autobahnen zu tun haben werden.
Aber wie das häufig mit populistischen Versprechungen ist, stellte sich heraus, dass sie gar nicht so einfach umzusetzen sind. Der Staat hat einen Vertrag mit Aspi, und wenn man den einfach auflösen würde, müsste der Steuerzahler eine milliardenschwere Konventionalstrafe zahlen, denn die Schuldfrage ist offiziell noch nicht geklärt. Der Prozess mit 71 Angeklagten wird sich wahrscheinlich noch über Jahre hinziehen. Ein neuer Plan der Regierung sieht die Schaffung einer staatlich-privaten Betreibergesellschaft vor, an der die Familie Benetton mit höchstens zehn Prozent beteiligt sein sollte. Aber die Verhandlungen dauern noch an, und so ist Aspi/Benetton weiterhin Betreiber der Autobahnen und auch der neuen Brücke, die vom Stararchitekten Renzo Piano, der aus Genua stammt, unentgeltlich entworfen wurde.
Der Regionalpräsident von Ligurien und der Bürgermeister der Stadt, beide rechtsgerichtet, brüsten sich damit, dass das neue Bauwerk innerhalb von wenigen Monaten selbst in der Corona-Zeit realisiert wurde. Für das unbürokratische Vorgehen haben sie die Bezeichnung »Modell Genua« geprägt. Aber die aufmüpfigen Feuerwehrleute kritisieren auch dies: »Dieses Modell, das jetzt so hochgelobt wird und das man unter dem Vorwand der Wirtschaftskrise auf ganz Italien ausdehnen will, sieht für den Bau von großen Infrastrukturen noch weniger Kontrollen vor, was die Katastrophe ja ausgelöst hat.« Und weiter: »Im Bausektor bringt es viel höhere Profite, wenn man neue große Werke schafft, anstatt diejenigen, die es bereits gibt, instand zu halten.« Der Einsturz der Brücke löste ja seinerzeit eine landesweite Debatte über die marode Infrastruktur aus, die dringend modernisiert werden sollte - getan hat sich wenig. Für die Feuerwehrleute ist auch die Schuldfrage geklärt: »Wir greifen bei den Tragödien ein, die von diesem profitorientierten System verursacht wurden.«
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