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Der Befehl kam aus Potsdam
Vor 75 Jahren wurde Hiroshima zum Ziel eines US-amerikanischen Atombombenangriffs. Die vielfältigen Warnungen der Wissenschaftler blieben ohne Wirkung
Im Dezember 1944 schied der Physiker und spätere Friedensnobelpreisträger Joseph Rotblat auf eigenen Wunsch aus dem US-amerikanischen Manhattan-Projekt zur Entwicklung und zum Bau einer Atombombe aus. Er hatte erkannt, dass der Zweite Weltkrieg entschieden war und Deutschland nicht mehr in der Lage sein würde, eine Atombombe zu bauen und einzusetzen. Damit war aus seiner Sicht die ethische und moralische Legitimation zum Bau der bis dahin tödlichsten Waffe der Menschheitsgeschichte entfallen. Doch die übergroße Mehrzahl der Wissenschaftler und Techniker des Manhattan-Projekts teilte diese Auffassung nicht. Rotblat selbst sprach später von »wissenschaftlicher Neugier«, die seine vormaligen Kollegen veranlasst hätte, die Arbeiten an der Atombombe fortzusetzen. Und nach der Kapitulation Hitlerdeutschlands am 8. Mai 1945 war es der andauernde Krieg gegen Japan, der nun als Rechtfertigung herhalten musste.
Doch je mehr sich die Forschungs- und Entwicklungsarbeiten ihrem vorläufigen Ende näherten und der Einsatz der Atombombe von einer entfernten Idee zu einer realen Möglichkeit wurde, desto größer wurden auch die Bedenken einer immer noch kleinen, aber wachsenden Zahl von Wissenschaftlern und Technikern. Im Ergebnis bildeten sich im Frühjahr 1945 in den verschiedenen Zentren der US-amerikanischen Atombombenentwicklung mehrere informelle Kreise, in denen die politischen und ethisch-moralischen Aspekte eines Atombombeneinsatzes diskutiert wurden. In der Debatte auf höchster Regierungsebene ging es hingegen nicht um das »Ob« eines Atombombeneinsatzes, sondern ausschließlich um das »Wann« und das »Wo«. Zu diesem Zweck trat am 31. Mai 1945 in Washington das sogenannte Interimskomitee zusammen, das US-Präsident Harry S. Truman wenige Tage zuvor berufen hatte. Unter Leitung von Kriegsminister Henry L. Stimson berieten hochrangige Politiker und Militärs sowie einige wenige als »Beraterkomitee« hinzugezogene Spitzenwissenschaftler die politischen und militärischen Folgen eines Atombombeneinsatzes für den weiteren Kriegsverlauf und vor allem für die Gestaltung der Nachkriegsordnung.
Truman hatte sein Amt an der Spitze der US-Administration erst am 12. April 1945, nach dem plötzlichen Tod seines Amtsvorgängers Franklin D. Roosevelt, angetreten. Am darauffolgenden Tag war er über die Existenz des Manhattan-Projekts informiert, und erst weitere zwölf Tage später auch mit den wissenschaftlich-technischen Aspekten der Atombombe bekannt gemacht worden. Der vormalige Senator aus dem Bundesstaat Missouri, der kaum über internationale Erfahrungen verfügte, stand unvorbereitet vor der ultimativen Herausforderung, entscheiden zu müssen. Ernest Lawrence, der dem Interimskomitee als Berater angehörte, empfahl nachdrücklich, auf einen militärischen Einsatz der Atombombe zu verzichten. Stattdessen schlug er vor, auf einer unbewohnten Insel vor internationalen Beobachtern, einschließlich Vertretern Japans, eine Testbombe zu zünden und so die Gewalt der neuen Waffe zu demonstrieren. Doch der Vorschlag wurde mit der Begründung abgelehnt, dass ein solcher Test möglicherweise scheitern könnte und Japan dadurch ermutigt würde, den Krieg fortzusetzen.
Mitte Juni 1945 sprach sich eine Gruppe von hochrangigen Physikern um James Franck und Leó Szilárd gegen die Anwendung der Atombombe im Krieg gegen Japan aus. Sie fürchteten den Beginn eines weltweiten atomaren Wettrüstens und sahen die Gefahr, dass die USA durch den Einsatz der Atombombe den »öffentlichen Beistand in der Welt verlieren« würden, wie es in ihrer Stellungnahme, dem »Franck-Report«, hieß. Auch aus Los Alamos, dem Herzstück des US-amerikanischen Atombombenprojekts, kamen ablehnende Stimmen. Besonderes Gewicht hatte die Warnung von J. Robert Oppenheimer, dem wissenschaftlichen Leiter des Manhattan-Projekts. Doch die vielfältigen Bemühungen der Wissenschaftler blieben ohne Wirkung, zumal das gesamte Projekt strengster Geheimhaltung unterlag.
Im Sommer 1945 standen den USA drei Atombomben zur Verfügung. Nach dem erfolgreichen Test einer Bombe am 16. Juli 1945 auf einem US-Testgelände war Truman überzeugt, für die Potsdamer Konferenz der drei Siegermächte des Zweiten Weltkriegs vom 17. Juli bis 2. August 1945 einen atomaren Trumpf in der Hand zu haben, um gegenüber der Sowjetunion die eigenen Pläne für die Nachkriegsordnung in der Welt durchsetzen zu können. Dieses Ziel bestimmte auch die Entscheidung, die beiden verbliebenen Atombomben gegen die japanische Zivilbevölkerung einzusetzen. Eine militärische Rechtfertigung dafür gab es nicht - Japan war längst geschlagen. Doch an der Spitze der US-Administration wusste man, dass die Sowjetunion am 9. August 1945, wie in Jalta vereinbart, mit eigenen Truppen in den Krieg gegen Japan eingreifen und damit ihren politischen Einfluss in der Region deutlich erhöhen würde. Das sollte um jeden Preis verhindert werden; die Entscheidung im Krieg gegen Japan sollte ohne die Rote Armee erzwungen werden.
Aus diesem Grunde erteilte Truman bereits am 25. Juli 1945 den Befehl, mit den technischen Vorbereitungen des Atombombenangriffs auf Japan zu beginnen. Drei Tage zuvor war Hiroshima endgültig als »first target«, als »erstes Ziel«, ausgewählt worden. Nach den verheerenden öffentlichen Reaktionen auf den Angriff auf Dresden am 13. Februar 1945 war die japanische Kaiserstadt Kyoto von der Liste möglicher Ziele gestrichen, dafür Nagasaki hinzugefügt worden.
Ort all dieser Entscheidungen war das »Little White House«, das vormalige »Haus Erlenkamp« in Potsdam-Neubabelsberg, das Truman während seiner Teilnahme an der Potsdamer Konferenz als Dienst- und Wohnsitz diente. Noch während seiner Rückreise in die USA auf dem US-Kreuzer »Augusta« hätte Truman die Möglichkeit gehabt, den Atombombeneinsatz zu untersagen. Er tat es nicht. Am 6. August 1945 durchlitt Hiroshima den atomaren Tod, am 9. August 1945 wurde Nagasaki durch eine Atombombe zerstört. Mehr als 100 000 Menschen starben im Feuer der beiden Bomben.
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