Einöde statt Prachtbauten

Andrzej Stasiuk schreibt über die EU-Skepsis der Polen, die Landschaft der Beskiden und ein Atomwaffentestgelände in Kasachstan als idealen Urlaubsort.

  • Norma Schneider
  • Lesedauer: 5 Min.

Der ehemalige Grenzübergang Konieczna zwischen Polen und Slowakei ist verlassen. Die Gebäude zerfallen langsam zu Ruinen. Als Polen Teil des Schengenraumes wurde, gab es dort einen kleinen Festakt mit Reden von Lokalpolitikern und Perlwein aus Plastikbechern. »Wir machten uns ein Vergnügen daraus, locker von einem Land ins andere zu gehen und wieder zurück«, schreibt der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk. Er war, wie einige andere Bewohner der Gegend, gekommen, um sich die Öffnung der Grenze anzuschauen. Er beobachtete allerdings, dass die meisten Einheimischen zu Hause geblieben waren und höchstens hinter ihren Vorhängen hervorlugten und das Geschehen argwöhnisch betrachteten. Sie misstrauten dieser Veränderung, wie sie den meisten Veränderungen misstrauten.

Bei den Präsidentschaftswahlen in Polen wurde gerade der nationalkonservative Regierungskurs bestätigt und Andrzej Duda wiedergewählt, der sich für ein »Europa der Vaterländer« einsetzt. Woher kommt die weit verbreitete EU-Skepsis in Polen? Stasiuk kehrt an den verlassenen Grenzübergang zurück, um darüber nachzudenken. Er notiert: »Nicht ausgeschlossen, dass wir nie Europäer sein wollten.« Die Angst vor Identitätsverlust sitzt tief und man ist müde vom Wettlauf mit dem Westen, den Polen nicht gewinnen kann. »Die einzige Chance für uns ist der Zerfall Europas, denn dann hört der Wettlauf auf. Die Zukunft verurteilt uns zum Scheitern. (…) Deshalb wählen wir die Vergangenheit, das, was vorbei ist.« Denn die Vergangenheit kann man so erzählen, dass sie von nationaler Größe und Heldentum handelt und das weniger Rühmliche verschweigt.

Andrzej Stasiuk ist ein scharfer Kritiker der Politik Polens, der gleichzeitig liebevoll auf Land und Leute blickt. Das zeigt sich auch in der »Beskiden-Chronik«, seinem neusten Werk, das in der deutschen Übersetzung von Renate Schmidgall erschienen ist. Die »Chronik« ist eine Zusammenstellung von Prosaminiaturen, Reiseberichten, Kommentaren und Rezensionen, die Stasiuk in den letzten Jahren für den Feuilleton der Wochenzeitung »Tygodnik Powszechny« verfasst hat. Die Themen sind vielfältig, doch die politischen Texte stechen angesichts der aktuellen Lage im Land besonders heraus.

Stasiuk kritisiert rechte Tendenzen und die Sehnsucht nach Autorität und Heldentum. Polemisch bezeichnet er die polnische Bevölkerung als dumm, denn: »[Sie] verachtet die Freiheit und sehnt sich nach der Knute.« In einem prägnanten Kommentar zur Krise des Asylrechts bringt er die Heuchelei vieler auf den Punkt, wenn er schreibt, dass man nicht »die Optimierung des eigenen Schicksals« und das »Reicherwerden« zum obersten Prinzip erheben kann, um sich dann zu wundern, wenn Menschen sich nach diesem Prinzip richten und ein besseres Leben anstreben.

Die meisten der nur wenige Buchseiten langen Texte beschäftigen sich mit der polnischen Landschaft und Stasiuks abenteuerlichen Reisen, aber auch mit den großen Fragen nach Leben und Tod, Glaube und Heimat. Die Schönheit der Beskiden, einem Gebirgszug im Südosten Polens, fängt Stasiuk in wunderbar poetischen, aber nie kitschigen Landschaftsbeschreibungen ein. Seit den 80er Jahren lebt der Autor, der in Warschau aufwuchs, in dieser einsamen Gegend und unterhält sich dort am liebsten mit den Schafen hinter dem Haus. Doch Stasiuk verklärt die Natur nicht. Die urbane Tristesse beschreibt er mindestens so stimmungsvoll wie die Wälder und Wiesen: »Biedronka, Lidl und Kaufland leuchten in der Finsternis. Keine Autos. Das Laternenlicht sickert in den nassen Asphalt. (…) Auch die Circle K leuchtet in ihrem Licht wie Lidl und alle Übrigen, denn eine andere Unsterblichkeit als die elektrische wird es nicht geben. Unter den letzten Laternen der Stadt schleppen zwei alte Frauen Taschen. Sie gehen mühsam, mit dem Schirm gegen den Wind.«

Seine Reisen führen Stasiuk meistens gen Osten, nach Russland, Kasachstan oder Mongolei. Die Städte interessieren ihn dabei wenig, am liebsten fährt er durch das Nirgendwo von Gebirgen, Wüsten und Steppen. Statt der kasachischen Hauptstadt Astana (jetzt Nursultan) mit ihren futuristischen Prachtbauten besucht er das Atomwaffentestgelände bei Semipalatinsk, wo in der Einöde der Steppe über 400 sowjetische Atombomben detoniert sind. Der Besuch dieser schrecklichen Landschaft, »von der man schwer sagen konnte, ob sie schon von der Vernichtung getroffen oder noch nicht ganz erschaffen worden war«, kommt einer existenziellen Erfahrung gleich. Wie kommt man auf die Idee, an so einem Ort seinen Urlaub zu verbringen? Für Stasiuk ist das völlig klar: Wir reisen, »um irgendetwas von der Welt zu begreifen« und um »herauszufinden, was mit uns geschehen wird oder woher wir kommen«.

Dieses intensive Erleben und Reflektieren von Dingen ist es, das Stasiuks Texte - neben ihrer Poesie und ironischen Schärfe - auszeichnet. Doch diese Reflexion, das Nachdenken und die Fantasie sind bedroht durch eine Informationsflut, in der alles gleich wichtig oder unwichtig wird und die kaum Zeit für eine intensive Beschäftigung mit einem Thema zulässt. »Wie kann ich der Welt Gerechtigkeit widerfahren lassen, ohne etwas zu übergehen? Ununterbrochen schreiben, ohne Schlaf, ohne Essen, nonstop Texte produzieren wie ein wahnsinniger Feuilleton-Apparat?«, fragt Stasiuk. Zum Glück ist es ihm gelungen, seinem differenzierten Blick auf die Welt treu zu bleiben und sich nicht vom Strudel der täglichen Meldungen mitreißen zu lassen. Dass er sich dabei nicht einfach in die idyllische Landschaft zurückzieht, sondern trotzdem klar politisch Stellung bezieht, macht die »Beskiden-Chronik« besonders lesenswert.

Andrzej Stasiuk: Beskiden-Chronik. A. d. Poln. v. Renate Schmidgall. Suhrkamp, 303 S., geb., 23 €.

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