- Politik
- Krise im Libanon
Nur ein Schachzug der Elite?
Ob der Rücktritt der Regierung tatsächlich die allumfassende Korruption im Libanon entgegenwirken kann, ist zweifelhaft
»Der Libanon befindet sich in der größten Krise seit Ende des Bürgerkrieges 1990«, sagt die Leiterin der Orientinstituts Beirut, Birgit Schäbler. »Das Land ist von sich überlagernden Krisen betroffen, die durch die Corona- Pandemie auf die Spitze getrieben wurden.« Die zwei Explosionen im Hafen von Beirut, die ganze Stadtteile schwer beschädigte, 165 Todesopfer und 6 000 Verletzte forderte, brachte das volle Fass nun endgültig zum überlaufen.
Diverse politische Beobachter bezweifeln jedoch, dass der von den Demonstranten geforderte Rücktritt der Regierung zu Veränderungen führen wird. Schon im vergangenen Herbst war es monatelang zu landesweiten Protesten gekommen. Mehr als ein Viertel der Bevölkerung war damals auf die Straße gegangen. Ende 2019 traten dann Premierminister Saad Hariri und sein Kabinett zurück. Eine Interimsregierung aus Technokraten unter Hassan Diab übernahm das Ruder. Die Demonstranten wähnten sich dem Ziel nahe: ein Ende der korrupten »Konkordanzdemokratie«, in der wichtige Ämter Eigentum von Konfessionsgruppen sind. So muss der Staatspräsident ein Christ, der Premierminister ein sunnitischer Muslim und der Parlamentssprecher ein Schiit sein.
Doch vergebens: »Die Krise im Libanon gründet auf Korruption und Misswirtschaft«, bilanziert der Wirtschaftsexperte Nicolas Chikhani. Nach dem Bürgerkrieg setzte die herrschende Elite voll auf den Finanz- und Bausektor, vernachlässigte Produktion und Landwirtschaft. Das Resultat: Die Bevölkerung ist bis zu 80 Prozent von importierten Nahrungsmittel abhängig. Das Land selbst gehört zu den höchstverschuldeten Ländern der Erde. »Die Dollarkrise führt derzeit zu einer gigantischen Umverteilung des Reichtums von der Mittelklasse zur Oberschicht«, beobachtet der Leiter der Welthungerhilfe in Beirut, Lennart Lehmann. »Während die einfache Bevölkerung 80 Prozent ihrer Kaufkraft einbüßte, konnte die Oberschicht, die Zugang zu Devisen behielt, ihre Binnenkaufkraft um 600 Prozent erhöhen. Die Oberschicht hat jetzt die Taschen voll mit frischem US-Dollar-Bargeld, ist reicher als je zuvor, kann ihre Wählerschaft mobilisieren und der Opposition in einem Wahlkampf keine Chance lassen.«
Das Dilemma der Opposition sieht Lehmann darin, »dass die außerparlamentarische Opposition von der herrschenden Elite die Bildung einer alternativen Regierung fordert«. Die Verteidigungsstrategie der Machthaber: keine Zugeständnisse an die Opposition. Verzögern, Zeit schinden, warten, bis den Protestlern die Luft ausgeht. Der Aufstand vom Oktober 2019 zerfiel im Frühjahr wegen der Coronakrise. »Plötzlich mussten die Protestierenden um ihr finanzielles Überleben kämpfen und im nationalen Interesse zu Hause bleiben.«
Die international geächtete radikalislamische Hisbollah, die im Libanon Regierungsverantwortung trägt und bist gestern den Premier- wie auch den Gesundheitsminister stellte, ist Teil dieses unfairen Systems, analysiert der in Beirut ansässige Politologe Mike Hofermann. Das haben die Proteste gezeigt. »Als die Revolution ausbrach, baten die Oppositionellen die Hisbollah um Unterstützung. Doch die Hisbollah muss ihren Status verteidigen. Als rein schiitische Organisation profitiert sie vom sektiererischen System.«
Derweil verbreiten Regierungsangehörige über Medien die Mär von einer internationalen Verschwörung gegen den Libanon. Die internationale Gemeinschaft wolle den Libanon zwingen, alle 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge dauerhaft im Land zu halten. Christliche und schiitische Gemeinschaften fürchten um ihren Einfluss, sollten die sunnitischen Syrer im Land bleiben. Auf dieser Furcht basiert die bizarre Koalition zwischen christlichen Parteien und der Hisbollah. Parallel hatte eine internationale Geberkonferenz am Sonntag Hilfe für den Libanon in Höhe von 250 Millionen Euro zugesagt. Deutschland steuert 20 Millionen bei. In der libanesischen Bevölkerung herrscht Sorge, dass das Geld im korrupten Apparat verloren geht. Denn jetzt, da die Regierung gescheitert ist, sagt Hofermann. »muss die Elite wochenlang eine neue Regierung bilden, die dann damit beauftragt wird, Neuwahlen zu organisieren - da verliert das Land Zeit und die Krise wird schlimmer.«
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