- Politik
- Gesundheitshilfe
»Wir sollten auch einen Anspruch auf Rente haben«
Ashwini Kamble arbeitet als Gesundheitshelferin in Mumbai. Das Ehrenamt übt sie an sechs Tagen pro Woche aus. Sie wünscht sich mehr Anerkennung
Ashwini Kamble, 57, arbeitet seit fast 30 Jahren als Community Health Volonteer (CHV – Gesundheitshelferin) in der indischen Metropole Mumbai an der Schnittstelle von Sozialarbeit und Gesundheitsversorgung. Die rund 3700 Ehrenamtlerinnen tragen mit ihren Aufklärungskampagnen maßgeblich zur Verbesserung der Gesundheitssituation von Müttern und Kindern in indischen Städten bei. Dafür erhalten sie jedoch nur eine Aufwandsentschädigung. Kamble und Mitstreiterinnen haben schon mehrfach eingefordert, dass ihre Tätigkeit als reguläre Arbeit anerkannt wird. Ohne Erfolg.
Frau Kamble, wie sind Sie dazu gekommen, als Community Health Volunteer - Gesundheitshelferin - zu arbeiten?
Das ist aus einer Notsituation heraus entstanden. Vor meiner Hochzeit hatte ich in einer Kugelschreiberfabrik gearbeitet. Danach hat mich mein Leben als Mutter und Hausfrau in Beschlag genommen. Ich war zufrieden, mit meinen Schwiegereltern, meinen drei Kindern und meinem Mann zusammenzuleben. Aber die wachsende Inflation hat es immer schwerer gemacht, allein mit dem Gehalt meines Mannes auszukommen. Im Dezember 1991 erzählte mir eine Freundin, dass Menschen für ein Regierungsprojekt gesucht werden und eine Aufwandsentschädigung gezahlt wird. Ich habe mich sofort beworben und wurde genommen.
Welche Ausbildung haben Sie damals erhalten?
Zunächst hatten wir eine achttägige Schulung. Von diesem Tag an bis heute haben wir uns ständig zu verschiedenen gesundheitsbezogenen Themen weitergebildet, so zur Ausrottung von Kinderlähmung, aber auch zu Krebsvorsorge, Familienplanung und durch Wasser oder Moskitos übertragenen Krankheiten. Zuletzt ging es um Corona.
Was macht Ihre Arbeit und die Ihrer Kolleginnen unersetzlich?
Es gibt viele Gründe, warum uns, mich oder eine meiner Kolleginnen, im Moment niemand ersetzen kann. Einer davon ist, dass ein Schulbuch nicht reicht, um unsere Erfahrungen, mit Menschen zu arbeiten, wettzumachen. Ursprünglich war unser Einsatz für ein fünfjähriges Projekt gedacht, bei dem es hauptsächlich um Familienplanung ging. Damals wusste kaum jemand darüber Bescheid. Die Regierung hatte erkannt, dass unsere Arbeit ihr bei vielen Gesundheitskampagnen helfen kann. In den Statistiken zeigte sich dann, dass durch unsere Arbeit das Gesundheitsbewusstsein wuchs. Und so wurde aus den ursprünglich geplanten fünf Jahren ein Projekt, an dem ich jetzt schon seit 29 Jahren beteiligt bin.
Hat die Corona-Pandemie Ihre Arbeit verändert?
Anfangs hat sie viele Aspekte unserer Arbeit verändert, ja. Denn normalerweise stehen ganz andere Probleme auf unserer Agenda. Anfang des Jahres haben wir zum Beispiel eine Tür-zu-Tür-Befragung zu Tuberkulose und Lepra durchgeführt. Der Ausbruch des Coronavirus hat dann alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Im März hatten wir ein Training dazu. Unsere Aufgabe ist es seitdem, Menschen auf die Symptome der Krankheit aufmerksam zu machen und ihnen zu zeigen, was zu tun wäre, falls es zu einem Verdachtsfall kommt. Mit dem Einsetzen der Regenzeit vor knapp zwei Monaten wurde unsere Arbeit praktisch wieder normaler: Wir müssen uns auf die Vermeidung von Krankheiten konzentrieren, die durch Moskitos übertragen werden, und kümmern uns darum, dass Kleinkinder geimpft werden.
Wie sieht Ihr Arbeitstag aus?
Ich beginne morgens und arbeite bis 14 Uhr nachmittags, doch in den vergangenen Wochen war es immer länger. Unsere Vorgabe war es, jeden Tag 100 Familien aufzusuchen, nach ihrem Gesundheitszustand zu fragen und bei Älteren den Sauerstoffgehalt im Blut zu messen, was in dieser Zeit nicht zu schaffen ist. Seit ich vor allem im Büro arbeite und mit Anrufen beschäftigt bin, kann ich rechtzeitig Schluss machen. Aber meine Kolleginnen kommen weiterhin spät nach Hause. Sonntags haben wir dann unseren freien Tag.
In ganz Indien demonstrieren Gesundheitshelferinnen und andere Angestellte im Gesundheitsbereich für die Versorgung mit ausreichend Schutzausrüstung oder die ausstehende Aufwandsentschädigung. Haben Sie ähnliche Probleme?
Seit ich diesen Job habe, sind wir im ständigen Kampf, das ist also nichts Neues. Wir haben unser Geld letztlich immer bekommen, aber manchmal mit Verzögerung. Die Verwaltung weiß, dass auf Dauer niemand erscheint, wenn wir unsere Aufwandsentschädigung nicht erhalten. Sie hat uns auch Handschuhe, Masken und Desinfektionsmittel zur Verfügung gestellt. Doch die Beamten, die die Sachen verteilen, sind langsam. Deshalb verwenden wir manchmal unser eigenes Desinfektionsmittel.
Es ist sicher nicht einfach, mit dem Arbeitsstress umzugehen, und Sie sehen dennoch gelassen aus. Wie machen Sie das?
In den 29 Jahren habe ich viele Jahre Training hinter mich gebracht. Ich habe in Projekten wie »Dilasa« mitgewirkt, bei dem es darum geht, Frauen, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, zu beraten und mental zu betreuen - das stärkt. Die Angst vor Corona war und ist da, aber unsere Aufgabe ist es, uns um Menschen zu kümmern.
Die Bezeichnung Community Health Volunteer deutet an, dass bei Ihrer Tätigkeit vieles auf einer persönlichen Verbindung beruht. Wie wichtig ist diese?
Unsere gesamte Arbeit fußt auf Vertrauen. In der Regel ist jede Gesundheitshelferin für 350 bis 400 Familien verantwortlich, und wir betrachten all diese Familien als unsere eigene, unabhängig von ihrer Religion oder ihrer sozialen Herkunft. Wir klären Frauen über verschiedene Verhütungsmöglichkeiten auf und diskutieren mit Männern sensible Themen wie Sterilisation, wenn die Familie bereits mehrere Kinder hat. In unserer Arbeit geht es um sehr persönliche und private Fragen, was ohne Vertrauen nicht funktionieren würde.
Im Gesundheitshelferprogramm CHV sind nur Frauen tätig. Gibt es eine hohe Fluktuation?
Einige sind bei uns geblieben, andere haben uns verlassen. Diejenigen, die eine höhere Grundausbildung haben, konnten sich zum Beispiel zur Krankenschwester weiterbilden. Für mich war das keine Option, da meine Schulausbildung nicht ausreichte und mir mit der Familie die Zeit fehlte, wieder zur Schule zu gehen. Einige meiner Kolleginnen haben sich auch einen weiteren Job als Haushaltshilfe zugelegt, da ihr Lohn nicht reicht, um die Familie zu versorgen.
In der Vergangenheit gab es oft Aufrufe, die Entlohnung von Gesundheitshelferinnen, die in der Stadt und im ländlichen Indien tätig sind, zu verbessern. Haben Sie das Gefühl, dass Ihre Arbeit nicht genügend Wertschätzung erfährt?
Für uns ist das Geld das größte Problem, denn selbst nach so vielen Jahren Arbeit bekommen wir, weil wir eigentlich Volonteers, also »Freiwillige« sind, nur eine Aufwandsentschädigung und kein richtiges Gehalt. In den vergangenen Jahren haben wir versucht, als Angestellte übernommen zu werden, und richtige Gehälter gefordert, doch das blieb bisher erfolglos. Vielleicht überrascht es Sie, dass ich bei meinem Eintritt im Dezember 1991 nur 200 Rupien bekommen habe. Nach all den Jahren waren es bis vor Kurzem 5000 Rupien. Nachdem wir protestiert haben, sind es jetzt 9000 Rupien (102 Euro)*. Es gibt einen großen Unterschied zwischen dem, was wir leisten, und dem, was wir bekommen. Und wir sollten wie Stadtangestellte auch einen Anspruch auf Rente haben.
Was würden Sie gerne ändern?
Die Regierung vernachlässigt die Freiwilligen im Gesundheitswesen. Das sollte anders werden.
Würden Sie sich wieder auf ein solche Stelle bewerben?
Ich würde es genauso machen, wenn ich wüsste, dass ich ein Gehalt entsprechend meiner Leistung bekomme. Bei dem, was wir derzeit erhalten, bin ich nicht sicher, ob ich es anderen Frauen empfehlen kann.
Hat dieser Job Ihr Leben verändert?
Die Arbeit hat mich unabhängig gemacht. Ich konnte zur Ausbildung und Erziehung meiner Kinder beitragen. Ich konnte Geld beiseite legen, um beispielsweise einen Kühlschrank zu kaufen. Ich habe verschiedene Menschen getroffen, viele Kontakte aufgebaut und konnte auch den Menschen in nächster Nähe helfen. Das hat mein Leben mit guten und schwierigen Erfahrungen bereichert.
Interview: Natalie Mayroth, Mumbai
Übersetzung (Marathi/Englisch): Mayur Yewle
Die Veröffentlichung wurde durch das Internationale Medienstipendium der Sir-Hugh-Carleton-Greene-Stiftung des Presse-Clubs Hannover unterstützt.
* Der Währungskurs der Rupie ist seit der Pandemie stark gefallen.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.