Flüchtlinge als Druckmittel missbraucht
Mit Forderungen an Frankreich will der britische Premier Boris Johnson vom eigenen Missmanagement in der Coronakrise ablenken
Angesichts des seit Monaten spürbar ansteigenden Stroms ausländischer Flüchtlinge über den Ärmelkanal hat die britische Regierung die französischen Behörden aufgefordert, diese Fluchtbewegung durch geeignete Maßnahmen unverzüglich zu unterbinden. Anfang vergangener Woche wurden vier Schlauchboote mit insgesamt 65 Insassen abgefangen und zurückeskortiert. In der Woche zuvor waren es an drei Tagen 151, 146 und 235 Flüchtlinge. Wie vielen die Überfahrt gelungen ist, weiß niemand, aber es häufen sich Berichte über leere Schlauchboote an britischen Stränden.
Seit der Liquidierung des »Dschungels von Calais« Ende 2016 und der massiven Absicherung des Fährhafens und des Eurotunnels haben sich die Schlepperbanden mehr nach Norden orientiert und schicken jetzt dort die Flüchtlinge nachts mit Schlauchbooten übers Meer. Das ist extrem gefährlich, denn der hier kaum mehr als 30 Kilometer breite Ärmelkanal ist die am dichtesten befahrene Seestraße der Welt.
Zwischen Januar und Juli 2020 hat die für diesen Küstenstreifen zuständige Meerespräfektur 342 Fälle abgefangener Fluchtboote mit insgesamt 4192 Insassen registriert, nahezu doppelt so viele wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Die meisten Flüchtlinge kommen aus dem Irak und Syrien, aber auch aus Afghanistan und dem Jemen. Demonstrativ hat sich die erzkonservative britische Innenministerin Priti Patel in der vergangenen Woche an Bord eines Küstenschutzbootes ablichten lassen und dabei erklärt: »Die Zahl der an unserer Küste strandenden Menschen ist schrecklich und beschämend.« Sie ließ ihre Überzeugung durchblicken, dass man auf französischer Seite bewusst die Augen vor dem Problem verschließt. Die Behörden dort wurden von ihr in barschen Worten aufgefordert, »endlich entschlossen zu handeln und diesem Treiben ein Ende zu bereiten«, indem die Abfahrt der Boote verhindert wird. Dabei dürfte auch Patel klar sein, dass es für die französische Polizei kaum möglich ist, den fast 40 Kilometer langen Küstenstreifen zwischen Calais und Dünkirchen rund um die Uhr lückenlos zu überwachen, zumal es keine fünf Minuten dauert, ein Schlauchboot abzuladen und voll besetzt auf den Weg zu schicken.
Die britische Innenministerin geht noch weiter und fordert von Frankreich, alle Flüchtlinge zurückzunehmen, die bereits die britischen Hoheitsgewässer oder die Küste erreicht haben und dort gestellt werden. Das widerspricht dem bilateralen Abkommen von Touquet von 2003 über das Grenzregime am Ärmelkanal, doch das will London wohl wieder stärker in die eigenen Hände nehmen. In diesem Sinne sagte die Innenministerin jetzt: »Frankreich und die anderen EU-Staaten sind sichere Länder und die asylberechtigten Flüchtlinge können und müssen dort einen Antrag stellen.« In Paris kann man das nur als Hohn empfinden, denn dank der Insellage kommen in Großbritannien viel weniger Flüchtlinge an als auf dem Kontinent. Die britische Offensive wertet man als Versuch von Premier Boris Johnsohn, von der Kritik an seinem Corona-Krisenmanagement abzulenken. Dasselbe gilt für die am vergangenen Wochenende überraschend verkündete Entscheidung, dass sich Reisende aus Frankreich ab sofort einer Quarantäne unterziehen müssen. Die französische Regierung hat ihre Verärgerung über diese allein politisch motivierte Maßnahme signalisiert, auf die man mit einer analogen Regelung für Reisende aus Großbritannien reagieren werde. Das hat zur panikartigen Abreise Tausender britischer Touristen geführt, so dass über Nacht Dutzende zusätzliche Eurostar-Züge und Fährschiffe eingesetzt werden mussten.
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