Marxens Darm und die Antifa im Museum

In Chemnitz erregt die Ausstellung »Gegenwarten« die Gemüter - vor allem ein Ausstellungsbeitrag des PENG!-Kollektivs

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 9 Min.

Keiner tritt Karl Marx. Mannshoch und grau steht eine Plastik, die den Philosophen darstellt, in einer Fußgängerzone in der Innenstadt von Chemnitz. Die Dresdner Künstlerin Else Gabriel hat den Säulenheiligen des dialektischen Materialismus auf ein Podest gestellt, an dem sich ein Pedal befindet. Würde es getreten, sänke Marx in sich zusammen - wie bei den »Wackelfigur« genannten Spielzeugen mit Pudel oder Giraffe. Ließe man das Pedal wieder los, feierte Marx seine Wiederauferstehung. Gabriel will damit Fragen zu Heldenverehrung und Denkmalstürzen anstoßen. Ihre Idee ergreift freilich an diesem Tag nicht die Massen. Die Chemnitzer wollen sich an diesem Tag weder tiefgründigen Fragen stellen noch mit Marx spielen. Sie essen nebenan im Restaurant ihre Pasta oder eilen ohne Blick auf das Kunstwerk vorbei.

Generell aber sorgt die Ausstellung »Gegenwarten«, deren Teil der »Wackel-Marx« ist, für einigen Wirbel in Chemnitz und weit darüber hinaus. Seit dem Wochenende sind an 21 Orten in der sächsischen Stadt Kunstwerke und Installationen, Videoarbeiten und Performances zu erleben. Besucher können zeitgenössische Klänge vom Glockenspiel auf dem Rathausturm hören, in neu angelegten Gärten auf einem bislang unbeachteten Platz neben dem Rathaus Kürbissen beim Reifen zuschauen oder über den Zweck einer temporären hölzernen Fahrradbrücke rätseln, die das holländische Künstlerkollektiv »Observatorium« in Sichtweite des Marx-Monuments errichtet hat - ohne Auffahrten.

Die Ausstellung soll Chemnitzer Ambitionen bekräftigen, im Jahr 2025 Kulturhauptstadt Europas zu werden. Die Stadt, die eigentlich eher für Erfindergeist und Arbeiterfleiß bekannt ist als für ihr (sehr wohl vorhandenes) kulturelles Leben, ist als einzige sächsische Bewerbung weiter im Rennen - anders als die einstige Residenz Dresden, die sich als kultureller Nabel des Freistaats fühlt und in deren Schatten sich Chemnitz stets wähnt.

Die Ausstellung, die von den Städtischen Kunstsammlungen ausgerichtet wird, hinterfragt Bilder, Klischees und Vorurteile von und über Chemnitz und bürstet sie gegen den Strich - mit originellen, verstörenden, kontroversen Ideen, die absehbar für Streit sorgen. Offenkundig wurde das bereits bei einer Installation des Schweizers Roman Signer. Er hat im bei Ausflüglern beliebten Schlossteich ein Auto versenkt. Nur Dach und Seitenscheiben ragen noch über den Wasserspiegel; die unter Wasser gelegenen Scheinwerfer dagegen leuchten weiter.

Die Szene erinnert an einen eben geschehenen Unfall; er wolle sich aber auch ironisch mit Katastrophenbildern auseinandersetzen, heißt es im Katalog. Das findet so mancher nicht witzig. Zunächst sprach das Boulevardblatt »Bild« als Zentralorgan des vermeintlichen Volksempfindens unter Hinweis auf die öffentliche Förderung der Schau und mit einem Bild des gewässerten Škoda davon, dass »800 000 Euro für Sinnlos-Kunst versenkt« worden seien. Dann wurden die Scheiben des Autos zertrümmert.

Auch anderswo schlagen die Wogen hoch. In einem Park zwischen Opernhaus und Busbahnhof liegt ein amorphes Gebilde: eine Art in sich verschlungener Schlauch voller Wölbungen und Beulen. Es handelt sich um die Nachbildung eines Darms - und zwar, wie auf einem an einen Baum gehefteten erläuternden Text klargestellt wird, um den von Karl Marx im vierundzwanzigfacher Vergrößerung. Die rumänische Künstlerin Anetta Mona Chişa und ihre Kollegin Lucia Tkáčová aus Tschechien orientierten sich dabei am Maßstab, den der sowjetische Bildhauer Lew Kerbel für das 1971 eingeweihte Marx-Monument wählte, das bis heute bekannteste Wahrzeichen der Stadt. Es zeigt, wie bei der Würdigung großer Figuren im öffentlichen Raum üblich, den Kopf des zu Ehrenden, in diesem Fall über sieben Meter hoch.

Chişa und Tkáčová werfen indes Fragen auf wie die, ob Helden auch anders inszeniert werden könnten oder ob neben dem Kopf nicht auch andere Organe als Sitz des Bewusstseins oder Ausgangspunkt wichtiger Entscheidungen in Frage kommen: Herz, Hände - oder Innereien. Kann auch Bauchgefühl zur Revolution führen? Über die Frage kann bequem an Ort und Stelle sinniert werden. Schließlich dient die Plastik auch als Sitzgelegenheit. So manchen Bürger lässt das Kunstwerk indes nicht als zur Ruhe kommen. Es sei ein »Zeichen für den Untergang von Chemnitz«, heißt es in einem von vielen empörten Facebook-Kommentaren, die der Blog »re:marx « gesammelt hat. »Super so ein Tolles Projekt wurde durch wem Finanziert?«, merkt ein anderer Kritiker an. Ein dritter wirft die Frage auf: »Furchtbar! Und das soll Kunst sein??«

Die Frage evoziert auch der Teil von »Gegenwarten«, der über Chemnitz hinaus absehbar für die größte Aufregung sorgte und beinahe zu einem Skandal geführt hätte. Es handelt sich um die Schau »Antifa. Zwischen Mythos und Wahrheit«, die das PENG!-Kollektiv im Gebäude der Städtischen Kunstsammlungen zeigt. Im Buchshop des Museums, das gerade 100-jähriges Jubiläum feiert; zwischen Postkarten, Plakaten und Katalogen, sind nun teils unter Plexiglas merkwürdige Objekte zu sehen: ein Kantholz etwa, zwei Handspannen lang. »Bremen 2018, Fichte, Künstler*in unbekannt«, ist auf einem Schild zu lesen. Daneben steht auf einem Podest ein Kasten einer sächsischen Biermarke. »Kunststoffkiste mit 20 gefüllten Bierglasflaschen«, heißt es erklärend. Auch eine Sprayfarbdose wird zum Ausstellungsgegenstand erhoben. Die verwendeten Materialien seien »Weißblech, Plastik, rote Lackfarbe«, so ist zu lesen; das Objekt sei in »Bautzen 2016« entstanden; als Künstlerin wird Irmela Mensah-Schramm genannt.

Die »Performances«, für die Mensah-Schramm bekannt ist und bei denen sie neben Sprühdosen auch Werkzeuge zum Kratzen einsetzt, zielen indes weniger auf Denkanstöße in der Art von Marxens Darm. Vielmehr geht es ihr um unmittelbare Eingriffe in das Stadtbild bundesdeutscher Städte - aus denen sie mit bemerkenswerter Beharrlichkeit Nazi-Aufkleber und rassistische Graffiti entfernt. Über 86 600 seien es seit 2007 gewesen, ist in der Ausstellung zu lesen. Die heute 75-Jährige, die als »Street-Art-Künstlerin« ebenso wie als »Polit-Putze« bezeichnet wird, sei für ihre Aktivitäten vielfach ausgezeichnet, aber immer wieder auch mit Ermittlungsverfahren überzogen worden. In Bautzen habe sie 2016 ein rotes Herz über eine rechte Parole gesprüht - und erhielt daraufhin von einem Polizisten eine Anzeige.

PENG! bringt derlei Aktivitäten in Chemnitz ins Museum - um, wie es in feiner Kalligrafie an der Wand des Ausstellungsraumes heißt, verbreiteter »Herabwürdigung und Kriminalisierung« antifaschistischen Engagements dessen »Vielfältigkeit und Schönheit« entgegen zu setzen. Die Schau schlägt einen weiten Bogen: Es geht um gewaltlose Antifa-Aktionen wie den Aufkauf aller Biervorräte im Ort durch Teilnehmer eines Bürgerfestes im sächsischen Ostritz, mit dem einem rechten Kampfsportevent die alkoholische Basis entzogen wurde - dafür steht der Bierkasten. Andererseits geht es um Kampagnen, die angebliche linke Gewalt instrumentalisieren - so wie beim angeblichen »Mordanschlag« auf den Bremer AfD-Politiker Frank Magnitz im Januar 2018, für den das Kantholz steht, der sich aber als erfunden herausstellte.

Insgesamt zehn Objekte sind im ehemaligen »König-Albert-Museum« zu sehen, darunter der Entwurf für das bekannte Antifa-Logo mit schwarzer und roter Fahne, den der Künstler Bernd Lange von der Initiative »Kunst und Kampf« 1987 in Göttingen zeichnete. Nun steht er, direkt neben dem 48 Euro teuren Jubiläumskatalog der Kunstsammlungen, gerahmt auf einem Galerieschrank, dessen Oberseite mit über 200 Aufklebern dekoriert ist, die das ikonische Motiv zitieren. Einer der Sticker heftet das Signet einer bayrischen Maid an, garniert mit dem Spruch: »Raucha, saufa, danzn, feiern - fia a nazifreies Bayern«. Ein anderer zeigt eine schwarze und eine rote Klopapierrolle, dazu den Slogan: »Anti-Egoistische Aktion«.

Dass derlei Objekte in einem Museum gezeigt werden, wäre an sich schon Provokation - zumal in Sachsen, wo zwar vielerorts eine rechte Alltagskultur herrscht und Bedrohung in der Regel von Nazis ausgeht, Sicherheitspolitiker der regierenden CDU aber ihr Engagement für Sicherheit und Ordnung gern eher dadurch unter Beweis stellen, dass sie Hubschrauber über dem linksalternativen Leipziger Szenekiez Connewitz kreisen lassen wie zu Silvester 2019. Das mündete in Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei. Sinnbild wurde ein Einkaufswagen mit der Pappsilhouette eines Polizeiautos, der angeblich brennend zwischen Polizisten geschoben wurde; ein Vorwurf, der sich später als falsch herausstellte. Der Einkaufswagen ist ebenfalls in Chemnitz zu sehen - als Replik. Das Original wurde nicht an PENG! herausgegeben; es sei ein »mutmaßliches Tatwerkzeug«, beschied die Staatsanwaltschaft.

Dass es am Eröffnungswochenende fast zu einem Skandal kam, lag derweil am kleinsten Ausstellungsobjekt, einem Button mit Antifalogo, den die Linksabgeordnete Martina Renner in einer Debatte zum von der AfD geforderten bundesweiten Verbot der Antifa im September 2019 im Bundestag trug. Auf der erläuternden Tafel wird die Hufeisentheorie, also die Gleichsetzung von Antifa und gewalttätigen Nazis, kritisiert sowie das gemeinsame Agieren von CDU, AfD und FDP bei der Ministerpräsidentenwahl in Thüringen gegeißelt. Wegen der namentlichen Erwähnung der Parteien kam es kurz vor der Eröffnung zum Streit mit dem Hausherren - der PENG! sogar mutmaßen ließ, man werde »aus den Kunstsammlungen rausgeworfen« und benötige »Kunstasyl«.

Erst nach sehr aufgeregtem Hin und Her in den sozialen Netzwerken stellte die Stadt Chemnitz klar, PENG! bleibe »natürlich« Teil der »Gegenwarten«-Schau, woraufhin das Kunstkollektiv erleichtert erklärte, das »Canceln« ihrer Schau sei »gecancelt«. Allerdings gibt es nun quasi einen erklärenden Hinweis zu den Erklärtafeln der Ausstellung selbst. Auf einer kleinen Tafel gleich am Eingang wird betont, die Texte im Raum seien »Teil der Installation«, und die Kunstsammlungen als Veranstalter »distanzieren sich von den hier formulierten parteipolitischen Aussagen«.

PENG! selbst machte für die mutmaßliche Zensur und den befürchteten Abbau der Ausstellung weniger die Kunstsammlungen verantwortlich; das Problem seien vielmehr »staatliche Anweisungen, die Institutionen einzuhalten haben«. Konkreter belegt wurde die Behauptungen nicht. Gänzlich ausgeschlossen scheint es freilich nicht, dass kulturelle Institutionen, zumal in Sachsen, sehr genau überlegen, wie sie sich politisch äußern. Hintergrund sind weniger Interventionen staatlicher Stellen als von politischer Seite, konkret: durch die AfD. Diese zieht in einem erklärten Feldzug zur »Entsiffung« der Kultur zunehmend gegen unliebsame Produktionen oder Einrichtungen zu Felde und beruft sich dabei stets auf ein »Neutralitätsgebot« für ganz oder teilweise von der öffentlichen Hand finanzierte Institutionen.

Zu spüren bekam das zuletzt das Gerhart-Hauptmann-Theater Zittau-Görlitz. Es hatte sich an einer »Karawane der Vernunft« genannten Aktion gegen rechte Corona-Proteste in der Oberlausitz beteiligt, gemeinsam mit Antifa-Gruppen. Die AfD, stärkste Kraft im Kreistag, schäumte. Das Theater, über dessen Finanzierung kommunale Parlamente befinden, soll sich nach dem Willen seines Aufsichtsrates nun einen »Verhaltenskodex« geben. Intendant Klaus Arauner betonte indes, man werde weiterhin die Freiheit der Kunst in Anspruch nehmen; ein Kodex, der diese beschneide, wäre »illegitim«.

Der Fall zeigt, auf welch schmalem Grat Kultureinrichtungen in Sachsen wandeln. Auch gegen die Chemnitzer »Antifa«-Schau droht die AfD vorzugehen. Man werde die »öffentliche Förderung des militanten Linksextremismus unter dem Deckmantel der Kunstfreiheit« nicht dulden und »parlamentarische Maßnahmen einleiten«, erklärte Jörg Urban, Fraktionschef im Landtag. Zudem wolle man Strafanzeige wegen Subventionsbetrugs stellen. Hintergrund: PENG! hatte die ausgestellten Objekte für je 1000 Euro angekauft, um die Legende einer staatlichen Finanzierung der Antifa vorzuführen.

Derzeit läuft zudem eine Auktion, bei der die ausgestellten Objekte meistbietend versteigert werden. Nutznießer soll das Alternative Jugendzentrum (AJZ) Chemnitz sein, das Rechten und Konservativen in der Stadt ein Dorn im Auge ist. Die Auktion bei Ebay läuft noch bis Samstag. Bei Redaktionsschluss waren für den Entwurf des Antifa-Logos 904 Euro geboten, für die Spraydose 301 Euro, für den Bierkasten 162,10 Euro. Das Kantholz wurde entfernt - wegen angeblicher »Gewaltverherrlichung«. Da sei Ebay freilich »den Rechten auf den Leim gegangen«, schrieb PENG!; schließlich sei es keine Tatwaffe, sondern »eine Erfindung der AfD, um sich zu Opfern linker Gewalt zu stilisieren«.

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