Wo die Aale sprudelten

Bei der Cholera-Epidemie 1892 in Hamburg gehörten besonders Arme zu den Opfern

  • Volker Stahl
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Corona-Pandemie trifft Arme besonders - und sie verschärft die Armut. Und auch in der Vergangenheit waren Arme gefährdet durch Infektionskrankheiten. Als Mitte August 1892 in Hamburg die Cholera ausbrach, zeigte sich dies auf verheerende Weise: »Es bestätigt sich aufs Neue, dass die Cholera vorwiegend die unteren Volksklassen aufsucht«, vermerkte der für die damals an die Hansestadt angrenzende preußische Gemeinde Wandsbek zuständige Medizinalbeamte. Und auch der amtierende Hamburger Bürgermeister Johann Georg Mönckeberg war - wie auch die Sozialdemokraten - der Ansicht, dass Erkrankungen »nur oder fast nur in den unteren Volksschichten« vorkamen.

Dieser letzte große Ausbruch der bakteriellen Durchfallerkrankung in Deutschland war einer der schwersten in Europa. Scharen von Journalisten, Wissenschaftlern und Ärzten reisten in die Elbmetropole, um sich vor Ort ein Bild von der Epidemie zu machen; darunter der vom verzweifelten Hamburger Senat aus Berlin herbeigerufene Mikrobiologe und Hygieniker Robert Koch. Nachdem er sich einen ersten Eindruck verschafft hatte, notierte er: »Ich habe noch nie solche ungesunden Wohnungen, Pesthöhlen und Brutstätten für jeden Ansteckungskeim angetroffen. Ich vergesse, dass ich mich in Europa befinde.«

Anfangs rätselten Experten, warum im benachbarten, damals selbstständigen, Altona kaum jemand erkrankte, obwohl die Schwesterstadt eng an die stark befallenen Hamburger Stadtteile St. Pauli und Eimsbüttel angrenzte. Doch bald fanden sie den Grund heraus: Entscheidender Faktor beim Ausbruch der Seuche war die Art der Versorgung mit Trinkwasser. Während die Hamburger alle Fäkalien ungereinigt in die Elbe fließen ließen, verfügte das preußisch regierte Altona bereits über eine Sandfilteranlage für Trinkwasser.

Im Hochsommer 1892 hatte Hamburgs Rückständigkeit in Sachen Hygiene fatale Folgen. In der Elbe wurde der hochinfektiöse Abfall durch Strömungen und das umherschwappende Wasser durchmischt und unbehandelt in die Hamburger Trinkwasserleitungen zurückgepumpt. So kam es vor, dass aus den wenigen Wasserhähnen in den Gängevierteln - wo die Ärmsten der Armen bisweilen in, bei Hochwasser überschwemmten, Kellerlöchern hausten - nicht nur kleine Aale, sondern auch Bakterien und Viren in rauen Mengen sprudelten. Das hygienische Problem war dem von hanseatischem Kaufmannsgeist dominierten Senat zwar seit Jahrzehnten bekannt, blieb aber lange ohne Konsequenzen. Erst 1891 hatten sich die politisch Verantwortlichen auf den Bau eines Filterwerks verständigt.

Die Sterblichkeit der Erkrankten betrug, bezogen auf die verschiedenen Einkommensverhältnisse, zwischen 50 und 57 Prozent. »Zwar bekamen Arme die Cholera mit größerer Wahrscheinlichkeit«, schreibt der Historiker Richard J. Evans rückblickend, »aber, einmal erkrankt, war die Wahrscheinlichkeit an ihr zu sterben, nicht größer für die einen als für die anderen«.

Evans schildert in seinem epochalem Werk »Tod in Hamburg«, wie sich die Wohlhabenden zu schützen versuchten, indem sie zu Tausenden in ihre Sommerhäuser vor der Stadt flüchteten oder die Anordnungen der Behörden minutiös befolgten. Ihr Personal - »unsere Mädchen«, wie Senator Gustav Hertz altväterlich formulierte - kochte Milch, Trink- und Spülwasser ab und sterilisierte die Bettwäsche im Backofen, alles über Wochen und Monate.

Derweil ignorierte die vom Malochen und Schleppen der schweren, wassergefüllten Zuber erschöpfte Arbeiterklasse die anempfohlenen Hygieneregeln weitestgehend. In einer »öffentlichen Warnung« beklagte die Polizei, dass viele Bewohner ihr Wasser vor dem Gebrauch nicht abkochten, wie auf zahlreich aufgehängten Plakaten dringend nahelegt. Doch viele Arme scherten sich nicht darum, reagierten fatalistisch. »Wi mööt ja doch starben!« (Wir müssen ja doch sterben), war eine typische Reaktion. Bis zum Abflauen der Epidemie registrierten die Behörden 16 596 Erkrankte. Insgesamt starben etwa 8600 Menschen.

Am 1. Mai 1893 nahm das neue Schöpfwerk mit 16 modernen Sandfilterbassins auf der Elbinsel Kaltehofe den Betrieb auf. Für viele kam das zu spät. Das schlechte Gewissen der Senatsangehörigen manifestiert sich im Innenhof des Hamburger Rathauses. Bei der Eröffnungsfeier fünf Jahre nach der Epidemie wurde im Gedenken an die Opfer der Cholera der Hygieia-Brunnen errichtet. Statt, wie ursprünglich geplant, ziert nicht der Handelsgott Merkur das Kunstwerk, sondern die griechische Göttin der Gesundheit.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.