Wohnungspolitische Robbenbabys

Die Wohnungsnot wird gesellschaftlich präsenter - nicht aber die Wohnungslosen

  • Karsten Krampitz
  • Lesedauer: 5 Min.

Eigentlich hätten sie doch zufrieden sein müssen, die Teilnehmer des am Freitag zu Ende gegangenen Treffens der Selbstvertretung wohnungsloser Menschen e.V., in diesem Jahr Corona-bedingt online veranstaltet. Zufrieden darüber, dass das Thema Wohnungsnot in so gut wie allen Medien präsent ist. Finden sich doch seit fünf, sechs Jahren in der Presse regelmäßig Schlagzeilen zum Mietenwahn und zu fehlendem Wohnraum. Nur: von den Wohnungslosen kein Wort. Wie erklärt sich das Paradoxon, dass in Fernsehen und Gazetten immer öfter über Wohnungsnot berichtet wird, jedoch ausgesprochen selten über Wohnungslosigkeit?

Als Problem der Gesellschaft habe die Wohnungsnot nicht erst im Jahr 2013 angefangen, so der Stadtsoziologe Andrej Holm bei seinem Workshop. Es habe schon immer Menschen gegeben, die in prekären und unsicheren Verhältnissen leben mussten, in Substandardwohnungen, ohne Toilette und ohne fließend Wasser - oder eben auch in gar keinen Wohnungen, auf der Straße oder in Obdachlosenunterkünften. Da sei es doch außerordentlich bemerkenswert, zu welchem Zeitpunkt die Medien das Thema für sich entdeckt hätten. Erst als das Lehrerehepaar in München keine Wohnung mehr finden konnte, die junge Polizistin an den Stadtrand ziehen musste, also erst als die Mittelschicht in ihrer Breite eine große Verunsicherung spürte, erst dann hätten die meisten Redaktionen begonnen, sich der Wohnungsnot zu widmen - was einiges zum Thema sagt, noch mehr aber über jene Redakteure, deren soziokultureller Horizont offenbar kaum über die eigene bürgerliche Lebenswelt hinausgeht. In ihren Berichten würden nur selten alleinerziehende Mütter auftauchen oder andere Menschen, die von Hartz IV leben müssen - Holm spricht von »wohnungspolitischen Robbenbabys«, die das Publikum dann zu Tränen rühren, etwa die Oma, die vierzig Jahre gearbeitet und vier Kinder großgezogen hat und nun die neue Miete nicht mehr bezahlen kann.

Ach, dann denke an den Winter

Diese Art des Journalismus führe in der Konsequenz dazu, dass zwar die Wohnungsnot thematisiert werde, jene Menschen aber, die schon früher von der Wohnungsnot betroffen waren - nicht zuletzt die Obdachlosen - fast immer unsichtbar blieben. Stefan Schneider von der Selbstvertretung resümiert: »Die Obdachlosigkeit ist der Gesellschaft scheißegal. Erst wenn ein großer Teil der wohnenden Bevölkerung unter Druck gerät, weil die Mieten steigen und sie wirtschaftlich nicht mehr zurande kommen, erst dann, wenn noch viele andere betroffen sind, wird das Thema diskutierbar.«

Die Berichterstattung in den Medien war nicht immer so, zumindest in Berlin. Stefan Scheider war dabei, als vor zwanzig Jahren Obdachlose die Lobby des Kempinski-Hotels besetzten, mit Transparenten: »Es sind noch Betten frei!« Fotos der Aktion schmückten tags darauf die Titelseiten von »BZ« und »Berliner Kurier«; so gut wie alle Tageszeitungen berichteten davon, ebenso das Radio und die Fernsehnachrichten. Und das war nicht die einzige Aktion dieser Art. Im Winter zuvor war der Obdachlose Willy King vor dem Eingang des Bahnhofs Friedrichstraße erfroren, nachdem Wachschützer der Bahn ihn der Halle verwiesen hatten. Die Trauerfeier fand im Bahnhof statt - Willy Kings Freunde hatten sich zu einem Sit-in verabredet. Die herbeigerufene Polizei bildete einen Kessel, griff aber nicht ein. Ein Pfarrer hielt die Predigt; Bettina Wegner und Karsten Troyke spielten »The Rose« von Bette Midler auf Deutsch: »Wenn die Nächte einsam waren/ War der Weg, dein Weg zu lang/ Und du glaubst, du kannst nicht lieben/ Weil es dir noch nie gelang/ Ach, dann denke an den Winter/ Der versteckt das Moos im Schnee/ Und die Blumen, die noch schlafen/ Werden Rosen sein wie je.«

Der Slogan der Selbstvertretung Wohnungsloser Menschen - »Alles verändert sich, wenn wir es verändern!« - war damals Programm. Nur gab es in Berlin leider noch keine linke Sozialsenatorin, und auch das Ressort Bauen war fest in SPD-Hand. Heute ist die Mieterbewegung in der Hauptstadt stärker denn je, während die Netzwerke der sozial Schwachen als Gesprächskreise fungieren.

Dabei ist die Selbstvertretung inhaltlich in vielen Punkten weiter als die unbehausten Spontis anno 2000. Beim jährlichen Treffen nimmt die Obdachlosigkeit von Frauen immer einen besonderen Stellenwert ein; neuerdings wird die Mitarbeit im Bündnis »LeaveNoOneBehindNoWhere« gesucht und praktiziert. Ein ehemals Wohnungsloser aus Leipzig hat in dieser Woche sogar die Frage nach LGBTQI-Themen gestellt. Überhaupt spielt Corona den Wohnungslosen praktisch in die Hände: Wegen der Ansteckungsgefahr wird derzeit die gängige Praxis der Massenunterkünfte reformiert.

Übung in Solidarität

Allein in Berlin ist im Bereich Wohnen sehr viel in Bewegung geraten. Bezirke kaufen ganze Häuser zurück. Der vom rot-rot-grünen Senat beschlossene Mietendeckel kommt einer tiefgreifenden Zäsur gleich: Seit Ende Februar dürfen keine Mieterhöhungen mehr vorgenommen werden - und zwar fünf Jahre lang! Bis dahin sollen genügend preiswerte Wohnungen gebaut werden. Neuvermietungen dürfen nur in Höhe der jeweiligen Tabellenmiete vorgenommen werden. Wenn das Landesgesetz in Karlsruhe nicht kassiert wird - derzeit ist beim Bundesverfassungsgericht eine Normenkontrollklage von CDU und FDP anhängig -, müssen in der Stadt ab November überteuerte Mieten abgesenkt werden. Dem nicht genug: Auf eine kleine Revolution - immerhin! - läuft die Berliner Mieterinitiative »Deutsche Wohnen & Co enteignen« hinaus.

In der Geschichte der Bundesrepublik hat es dergleichen noch nie gegeben: eine Enteignung zum Zwecke der Sozialisierung, gemäß Artikel 15 des Grundgesetzes. Innerhalb kurzer Zeit wurden für das Volksbegehren 77 000 gültige Unterschriften gesammelt, fast viermal so viel als notwendig war, um den Senat dazu zu bewegen, die zweite Unterschriftenphase einzuleiten, in der dann 170 000 Unterschriften gesammelt werden müssen, um das Volksbegehren zur Abstimmung zu stellen.

Während dieser zweiten Phase werden auch die Berliner Wohnungslosen, die in den Heimen untergebracht und polizeilich angemeldet sind, unterschriftberechtigt sein. Wie wäre es, wenn sich die Selbstvertretung wohnungsloser Menschen in das Projekt einbringt und symbolisch tausend Unterschriften sammelt? Wer Solidarität einfordert, sollte auch selbst Solidarität üben.

Der Workshop von Andrej Holm über Wohnungsnot, deren Ursachen und Bekämpfung ist online abrufbar: www.ogy.de/holm

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