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Wie aus dem Bilderbuch
Polen: In der Kaschubei herrscht Ursprünglichkeit
Blasmusik ertönt. Von der kleinen Kirche her bewegt sich eine feierliche Prozession. Vorneweg laufen vier Mädchen mit einem Marienbild und die Kapelle, hinter ihnen die Gemeinde - Männer, Frauen, Kinder in altmodisch-bäuerlicher Kleidung, viele barfuß. Die zaghaften Schritte der Jüngeren verraten, dass sie das Laufen ohne Schuhe nicht gewöhnt sind. Dennoch: Sichtbaren Spaß haben alle an der Szene, die zu einem historischen Film gehört. Piotr Zatoń ist zufrieden. »Danke, Leute - toll gemacht! Zehn Minuten Pause«, ruft der Regisseur und Fotograf.
Sein Werk, nach dem Roman des kaschubischen Schiftstellers Aleksander Majkowski, »Das abenteuerliche Leben des Remus«, spielt in der Kaschubei des 19. Jahrhunderts. »Ich könnte mir keine besseren Kulissen dafür vorstellen als die von Wdzidzen«, sagt Piotr. Denn in dem Kaschubendorf am Weitsee scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Alles scheint noch so wie vor Jahrhunderten: schlichte, hübsche Bauernhäuser, Windmühlen und Heuschober. Ziegen, die im Schatten hoher Linden dösen.
Seit über 100 Jahren ist es ein Museum, 1906 gegründet - nachdem die Armut seine Bewohner vertrieben hatte. Früher galten die Kaschuben als ländliche Minderheit. Wer von ihnen seine eigene Identität nicht unterdrückte und die Sprache der deutschen oder polnischen Obrigkeit beherrschte, hatte damals keinen Platz in der Gesellschaft.
Höllenweg ins Paradies
Über große Teile Pommerns erstreckt sich heute noch die Kaschubei. Benannt ist die Kulturlandschaft nach einem westslawischen Volk, das weitestgehend mit dem polnischen zusammengewachsen ist. »Gduńsk«, wie die Kaschuben Danzig nennen, betrachten sie als ihre Hauptstadt. Viel mehr von ihnen leben allerdings in Gdingen. Nördlich zieht sich die Kaschubei bis an die Ostseeküste und über die Halbinsel Hela, westlich bis in die Sandberge des Slowinzischen Nationalparks.
An das westslawische Volk der Slowinzen (auch Lebakaschuben), die hier einst lebten, erinnert heute neben Namen und Bezeichnungen auch ein Freilichtmuseum in Klucken (Kluki). Das Bauern- und Fischerdorf am Lebasee war offenbar der letzte Ort, an dem Slowinzisch gesprochen wurde, bevor es Mitte des 20. Jahrhunderts ausstarb. Typisch für die slowinzischen Dörfer waren die Fachwerkhäuser, denen die Region den Namen »kariertes Land« verdankt. Spitzenreiter unter den karierten Dörfern ist Schwolow (Swołowo) bei Stolp (Słupsk), wo alleine 70 Bauten mit den markanten Balkengittern erhalten blieben.
Das Kerngebiet der Kaschubei bildet die Kaschubische Schweiz, die zu den reizvollsten Teilen der hügeligen Seenlandschaft gehört. Mittendrin der Turmberg (im Polnischen weiblich: die Wieżyca) ist mit 329 Metern die höchste Erhebung weit und breit.
Am Rande des kleinen Naturschutzgebiets Turmberg-Höhe liegt Schönberg (Szymbark). Hier befindet sich das Zentrum für Bildung und Regionalmarketing, das vor allem aus einem recht kitschigen Freizeitpark mit einem 115-Betten-Hotel besteht. Die Hauptattraktionen sind ein auf dem Kopf stehendes Haus, das im Stil der sozialistischen 1970er-Jahre eingerichtet ist, sowie ein Tisch und ein Brett, die wegen ihrer Länge einst Guinessbuch-Rekorde hielten.
Dass die meisten Leute vor allem dieser Dinge wegen kommen, findet Maks Blok schade. »Besonders die Jüngeren haben wenig Interesse an unserer Kultur«, bedauert der 19-jährige Kaschube, der im Freizeitpark arbeitet. Für seine Gäste trägt er an diesem Nachmittag die Tracht seines Volkes und singt ihnen ein Kinderlied zum kaschubischen Alphabet vor.
Selber könne er die Sprache seiner Ahnen zwar ganz gut verstehen, sprechen aber nicht. Seiner Kollegin Brygida Trela, 35, geht es ähnlich: »Zu Hause reden wir Polnisch«, sagt sie. Beide stimmen überein: Was sie hier für die Touristen tun, ist Folklore. Doch Tradition ist mehr. Das zeigen alteingesessene Handwerksbetriebe wie die Töpferei Necel in Chmelno (Chmielno) ebenso wie junge Leute, die ihr Erbe neu entdecken - so wie die im 33 Kilometer entfernten Wdzydzen (Wdzydze Kiszewskie).
Viel mehr als nur Folklore
Im dortigen Museumsdorf neigt sich der Filmdrehtag dem Ende zu. Die Exkursion in die Vergangenheit war besonders für die schauspielenden Schüler ein großartiges Abenteuer. Przemek Kostrub und Jovanna Czerkas strahlen voller Glück. Die beiden jugendlichen Hauptdarsteller aus Karthaus sind auch in Wirklichkeit ein Liebespaar und stolz auf ihre Heimat. Von hier wegzugehen, könnten sich die beiden 16-Jährigen nie vorstellen. »Außer vielleicht für eine Weile zum Studieren«, fügt Przemek noch hinzu. Freiwillig lernen er und seine Freundin ihre immer seltener werdende Muttersprache in der Schule, aber auch zu Hause mit ihren Großmüttern.
Weniger als 100 000 Menschen sprechen heute noch Kaschubisch. Dreimal so viele, schätzt man, können es verstehen. »Kultur fängt mit der Sprache an«, meint Przemek. Er findet es cool, sich um seine Traditionen zu kümmern.
Zur Mehrheit gehört er mit dieser Meinung nicht. Von seiner Klasse nimmt kaum die Hälfte am Kaschubischunterricht teil. »Bei uns fiel der Kurs im letzten Schuljahr sogar aus, weil sich nur sechs gemeldet hatten«, erzählt Jovanna, die außer Liedern auch das Sticken von der Oma lernt. Die alten Blumenornamente haben es ihr besonders angetan - noch viel mehr jedoch die alten Tänze, die auch Przemek mag. Deshalb verbringen sie viel Freizeit mit »Modraki«, einem Ensemble aus rund 50 jungen Sängern, Tänzern, Musikanten.
Wer sie in Aktion erlebt, wird nicht bezweifeln, dass die kaschubische Kultur ganz zeitgemäß sein kann. Das beweisen gleichfalls junge Literaten wie die Gruppe »Zmyk« (kaschubisch: Frühling) oder moderne Musiker, die auf Kaschubisch rocken oder rappen.
Berühmte Kaschuben der Gegenwart sind die Schauspielerin Danuta Stenka, die Schriftstellerin Dorota Masłowska sowie der ehemalige polnische Ministerpräsident Donald Tusk. International bekannt geworden war die Kaschubei durch Günter Grass, dessen Mutter Kaschubin war. Mit Romanen »Die Blechtrommel« oder »Der Butt« setzte der Schriftsteller seiner kaschubischen Heimat literarische Denkmale.
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