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»Diesmal ist alles anders«
Eine Aktivistin erzählt, warum es nach diesen Wahlen wirklich Hoffnung auf Veränderung gibt
In der Mittagssonne vor dem Brandenburger Tor steht eine ungewöhnliche Demonstrantin: Auf Jeannas Plakat ist kein politischer Spruch und keine Fahne, kein Symbol - nur ein verängstigtes Gesicht. Eine Momentaufnahme aus dem Video, mit dem sich die belarussische Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja vor ein paar Tagen aus Litauen meldete. »Das ist die Stelle, an der Swetlana sagt, dass viele Belarussen sie hassen werden, weil sie das Land verlassen hat«, erklärt Jeanna. »Aber ich stehe hier, um ihr zu zeigen, dass ich sie verstehe - von Frau zu Frau.«
Jeanna Krömer weiß, wie es ist, aus dem Land zu fliehen, das man verändern möchte. Sich für das eigene Leben zu entscheiden und die Mitstreiter zurückzulassen. Vor zwölf Jahren verließ sie selbst Belarus. Nach den manipulierten Wahlen im Jahr 2006 war sie über Nacht zur Aktivistin geworden, organisierte Proteste, schrieb für eine unabhängige Zeitung. Dann wurde sie verhaftet, zusammengeschlagen und bedroht. Bis sie ging, auch um ihre Familie zu schützen - so wie Tichanowskaja, deren Bild sie heute in die Kameras der Journalisten hält.
Jeanna kommt aus Hrodna, einer beschaulichen Stadt an der polnischen Grenze. Sie studierte Germanistik, bekam einen Job in der IT-Branche. »Ein ganz durchschnittliches belarussisches Leben. Das Politische beschränkte sich auf Küchengespräche«, erzählt sie. Dann kam der 19. März 2006. Zu den Präsidentschaftswahlen ist Jeanna in Minsk. Von den Straßenlaternen blickt der immer gleiche Mann mit Halbglatze und Schnauzbart. Noch bevor die Wahllokale schließen, verkündet die Kommission Lukaschenkos Sieg mit überwältigenden 85 Prozent.
Während sie die immer gleichen Ergebnisse verfolgt, denkt Jeanna an die Proteste nach der Wahl in der Ukraine vor zwei Jahren, an ihre orangen Fähnchen und die Blumen. Daran, dass es den Demonstranten nach Wochen gelang, dass die Wahl wiederholt wurde - und der Oppositionskandidat doch noch gewann. Am Abend schreibt sie ein paar Freunden: Treffpunkt Oktoberplatz, als Erkennungszeichen dienen blaue Luftballons. »Auf dem Weg war ich mir sicher, dass ich dort alleine stehen werde«, erzählt Jeanna. Doch in der Nacht strömen Zehntausend auf den verschneiten Platz: Studenten, Kulturträger, die belarussische Intelligenzija. »Das musst du dir vorstellen, das Mädchen aus Hrodna steht Seite an Seite mit Schauspielern und Autoren, die sie verehrte«, lacht Jeanna.
In den darauffolgenden Tagen bauen die Protestler eine kleine Zeltgruppe auf, besorgen Lebensmittel und eine Komposttoilette. »Ein paar Tage Freiheit«, nennt Jeanna diese kurze Zeit. Obwohl die Angst vor der Sonderpolizei groß ist. Vor der Wahl hatte Lukaschenko gedroht, jedem den Kopf abzureißen, der es wage, an Demonstrationen teilzunehmen. Im Morgengrauen des fünften Tages wird Jeanna aus dem Zelt heraus verhaftet.
Weil sie alleinerziehend ist, kommt Jeanna schnell wieder frei. Sie besorgt Lebensmittel und Geld für die Aktivisten, die noch im Gefängnis sitzen. Sie plant Aktionen, schreibt für eine unabhängige Zeitung. Das Adrenalin, der Zusammenhalt und die Hoffnung der ersten Nacht tragen sie. »Ich war überzeugt, dass es sich lohnt weiterzumachen«, erzählt Jeanna. Doch dann dringen Polizisten in Jeannas Wohnung, schlagen vor den Augen ihres Kindes auf sie ein. Die Uniformierten nehmen ihren Computer, ihre Dokumente und ihr Handy mit. Und auch die Sprache des Sohnes: Seit dem Vorfall stottert er.
Als Jeanna später im Jahr für einen Studienaufenthalt nach Österreich reist, erhält ihr Mann in Minsk einen Anruf. »Sagen Sie Ihrer Frau, eine Telefonistin habe angerufen«, sagt die Stimme und legt auf. Unter belarussischen Aktivisten ist »Telefonist« ein Deckwort für die Geheimdienstler, die einen persönlich beschatten. Als Jeannas Mann ihr später am Telefon von dem Anruf erzählt, knackt es bedrohlich in der Leitung. In diesem Moment weiß Jeanna, dass sie nicht nach Belarus zurückkehren kann. Erst drei Jahre später gelingt es ihr, auch ihren Sohn nachzuholen.
Heute hat Jeanna noch einen zweiten Sohn. Ungeduldig zieht der Kleine an der rot-weiß karierten Tischdecke des Berliner Cafés, in dem seine Mama ihre Geschichte erzählt. Seit Tagen spricht sie mit der Presse, hängt am Telefon, organisiert Solidaritätsaktionen. »Dabei habe ich die Präsidentschaftswahl 2020 lange ausgeblendet«, gesteht Jeanna. Zu groß sei die Enttäuschung über die Wahlen von 2010 und 2015 gewesen, in denen sie nächtelang von Deutschland aus versuchte, Aktivisten im Land zu koordinieren und Informationen zu verbreiten - und sich doch nichts änderte. Und diesmal? »Es gibt tatsächlich Hoffnung«, überlegt sie vorsichtig. Und dann doch lauter: »Nein, tatsächlich. Diesmal ist alles anders.«
Denn bei den vorherigen Wahlen hat die Regierung zwar die Ergebnisse manipuliert - »gewonnen hätte Lukaschenko aber vermutlich auch so«, erklärt Jeanna. Eine Mehrheit der Belarussen stand jahrelang hinter ihrem »Batka«, ihrem Vater, der zwar mit harter Hand regierte, aber eben auch für Stabilität und Ordnung sorgte, den Industrie- und Agrarsektor subventionierte und enge Wirtschaftsbeziehungen zu Russland pflegte. Zuletzt hatte es der starke Mann sogar geschafft, sich im Westen zu etablieren: Im Februar dieses Jahres war Belarus das erste Mal zur Münchner Sicherheitskonferenz eingeladen.
Dieses Bild zerbrach in der Coronakrise. Da tat der in die Jahre gekommene »Papa« erst das Virus als Psychose ab, dann empfahl er Wodka und Banja (russische Sauna) gegen die Ansteckung. Während Lukaschenko im Fernsehen Hockey spielte, als sei nichts, wussten sich seine »Kinder« selbst zu helfen: Seit April haben sich in Belarus Hunderte Regionalgruppen gebildet, die sich über Telegram und Facebook koordinieren: Freiwillige tauschen Informationen zu Fallzahlen aus, verteilen Masken und sammeln Geld für die Krankenhäuser. Die Belarussen brauchten plötzlich ihren Vater nicht mehr, der nun auch noch anfing, sich über die Verstorbenen lustig zu machen, einen populären Video-Blogger einsperrte und seine Bürger als »Schafe« beleidigte. »Bei der diesjährigen Wahl musste Lukaschenko mehr als ein paar Prozente für sein Ego nach oben korrigieren«, vermutet Jeanna. Unabhängige Beobachter und vereinzelte Wahllokale, die die Stimmen korrekt ausgezählt haben, legen nahe, dass eine große Mehrheit gegen Lukaschenko stimmte.
So ist es diesmal eben nicht nur die Intelligenzija, die es vor lauter Frust über den Wahlbetrug auf die Straße zieht. Es sind auch die Arbeiter, die in der Coronakrise das Vertrauen in ihren Präsidenten verloren. Es sind die jungen Angestellten, deren Jobs in der boomenden IT-Branche von Belarus gefährdet sind, wenn Lukaschenko das Internet abstellt, weil er Angst vor den Bildern hat, die seine Bürger in die ganze Welt verschicken. Es ist die belarussische Diaspora in Prag, Warschau und Berlin, die diese Bilder verbreitet und ihre Lokalpolitiker unter Druck setzt, nicht wegzuschauen.
Vor allem aber sind es die Frauen. Frauen in weißen Kleidern, Hand in Hand entlang der großen Alleen von Minsk. Frauen mit Blumen, vor Männern mit Gewehren. Frauen wie Nina Bahinskaja, die Urgroßmutter, die in diesen Tagen zu einer Nationalheldin avanciert. Täglich geht die alte Dame mit ihrer weiß-roten Fahne »spazieren«, wie sie den irritierten Polizisten erklärt. Die sind von Lukaschenko angehalten, die »Rabauken und Terroristen« von der Straße zu prügeln - und finden dort ihre Töchter, Schwestern und Mütter vor.
»Das Team Lukaschenko hat uns immer unterschätzt«, erklärt Jeanna. »Wenn Frauen in der Vergangenheit demonstrierten, haben sie uns verhöhnt. Die Leiterin der Wahlkommission hat einmal gesagt, das seien keine Frauen, die auf die Straßen gingen, denn Frauen würden in der Küche stehen. Da haben wir unsere Töpfe und Kochlöffel rausgeholt und ordentlich Lärm gemacht.« Überhaupt sei Belarus ein Land von Frauen, sagt Jeanna. Nach dem zweiten Weltkrieg waren sie es, die die Städte wiederaufbauten, nachdem ein Drittel der Männer im Kampf gefallen war. In den Neunzigern, als viele Belarussen die Arbeit verloren und resignierten, waren es ihre Frauen, die Produkte aus der Türkei importierten, um die Wirtschaft anzukurbeln. Und heute ist es eine Frau, die den seit 26 Jahren regierenden Diktator herausfordert: »Lukaschenko hat Tichanowskaja zur Wahl zugelassen, weil er sie für eine schwache Frau hielt«, erklärt Jeanna. »Er hat niemals damit gerechnet, dass sie so viele Belarussen hinter sich versammeln wird«.
Eine schwache Frau - so nannte Tichanowskaja sich selbst in ihrer Videoansprache nach ihrer Flucht nach Litauen. »Die Belarussinnen verstehen es, sich schwach zu stellen - aber nicht schwach zu sein«, kommentiert Jeanna und zwinkert. Sie soll recht behalten. Zwei Tage nach unserem Interview kündigt Tichanowskaja an, sie sei bereit, nach Belarus zurückzukehren und das Land zu führen.
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